Sonntag, 21. April 2019

Hartmudo: Mutter

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Mein wütender Ausbruch, dass ich mich als Einziger für die persönlichen Gegenstände wie Fotos und alte (Liebes)Briefe interessieren würde, zeigte Wirkung. Sunny war von da an richtig sauer. Auf meinen mit voller Wut gebrüllten Satz reagierte sie zwar nicht, blieb sogar für einige wenige Augenblicke stumm. Sie würde nicht einfach so alles verschenken bzw. verschleudern. Ja, verschleudern... Genau das war Sunnys Vorwurf. Das Berta und ich aus Bequemlichkeit Mutters Wertsachen quasi einfach wegschmeißen würden.
Diesen Kritikpunkt würde ich dank meiner eigenen, bereits beschriebenen Einstellung zu dieser Flohmarktaktion nicht gänzlich zurückweisen wollen. Aber anders als Sunny, wie übrigens auch Mutter höchst selbst, sind Eigentum und Besitz eines Menschen weder wichtig noch erinnerungswürdig. Mir geht es um die Erlebnisse, die sich eben durch Fotos, Urkunden und alte Briefe dokumentieren lassen.
Jedenfalls war Sunny schon wieder gut in Fahrt und schimpfte weiter vor sich hin. „Ich will die Fotos aber auch haben!" fiel ihr mittendrin dann hierzu ein.
„Ich scanne alles ein und gebe Euch das dann. Original oder Datei, ist mir egal." Diese Antwort fiel mir ohne weiteres Nachdenken ein.
Denn allein für mich hatte ich beschlossen, all die Fotos und Briefe mitzunehmen, um sie zu Hause über den Scanner zu legen. Ich hatte bekanntlich einige Fotos bereits Wochen vorher gescannt gehabt, diesen wesentlich größeren Batzen an Material würde ich meinen Schwestern auch zur Verfügung stellen, selbst wenn Sunny noch weiter abrastet. In diesem Punkt bin ich Gerechtigkeitsfanatiker, schließlich war mein Vater Beamter gewesen, das hallt nach.
Den Inhalt von Sunnys Wutausbrüchen bekam ich schon gar nicht mehr mit, und jetzt, wo ich hier im Cafe sitze und die Geschehnisse weiter aufschreibe, habe ich diesen Inhalt eigentlich vergessen, genau wie Bertas Reaktion darauf. Ich denke, sie und Bud waren auch nur noch geschockt von Sunnys Auftritt, denn der war filmreif. Und bei einem guten Film im Kino ist man halt sprachlos.
Irgendwann in all diesem Chaos in Mutters Wohnung stand meine Löwin doch mal auf und machte einen Vorschlag. Was, weiß ich auch nicht mehr. Mit schmerzverzerrtem Gesicht - die Venenentzündung im Bein machte sich bemerkbar - stand sie Sunny gegenüber. Sie schrie nicht, nein, sie sprach ruhig und gefasst. Vielleicht etwas lauter, aber auf keinen Fall aggressiv.
„Du hast hier überhaupt nichts zu sagen!" Sunny kreischte wie eine Motorsäge und unterstützte diesen geifernden Spruch mit einem in Richtung meiner Löwin ausgestreckten Zeigefinger. Die Ehepartner sollten also ruhig sein, dabei hatte meine Löwin lediglich einen Vorschlag zur besseren Abwicklung des Flohmarktes machen wollen.
Diese krasse Szene war zu viel für mich, jetzt verlor ich endgültig meine Contenance. „Ey, Du Fotze!" schrie ich laut und drohend, das war schon Tourette-artig. Mein Puls raste, ich war total stinkig. Niemand hat das Recht, meiner Löwin so über den Mund zu fahren. Dies war einer dieser Momente, in denen bei mir alle Dämme brachen. So wie ich in der Vergangenheit schon mal Freunde, häufiger allerdings meine Kunden, übelst angepöbelt hatte, so kriegte Sunny in dieser Situation die volle Breitseite.
Sofort war Ruhe, selbst Reiner war vor Schock sprachlos. Ein bis zwei Sekunden Ruhe, keiner sagte etwas. Doch ich war wohl noch mehr geschockt als die Anderen. Was hatte ich da wieder gemacht? Einen derart asozialen Spruch hatte ich wohl noch nie gerissen - oder ich habe es erfolgreich verdrängen können.
Egal, reflexartig schrie ich, ein bis zwei Sekunden später halt, ein „Entschuldigung! Das tut mir leid. Nein, das gehört sich nicht." in die Runde. Gleichzeitig riss ich meine Arme nach oben und zog in einer spontanen Geste der Unterwürfigkeit meinen Kopf ein. Ich konnte den Spruch zwar nicht ungeschehen machen, aber mein Verstand arbeitete trotz des ganzen Stresses immer noch schnell genug, um innerhalb einer Sekunde meinen Fauxpas zu erkennen und eine der Situation angemessene Reaktion zu zeigen.
Auch wenn ich früher schon so manches Mal ausgerastet war, zumeist auf der Arbeit, so war dieser Spruch selbst für meine Verhältnisse extrem. Ich denke, das alle Anwesenden derart geschockt waren, das sich niemand mehr nach meiner Entschuldigung dazu äußern wollte. Meine Familie kannte mich bisher so ja auch nicht.
Nach einigen Minuten jedoch hatte sich der Lage, und damit auch die Stimmung, wieder normalisiert. Damit will ich sagen, dass Sunny weiterhin rumätzte und Berta und mich dadurch weiterhin einschüchterte. Berta war für den nächsten Tag ja gut raus; sie würde beim Flohmarkt gar nicht da sein und sich durch Gundula oder Eveline vertreten lassen. Und was sollte ich dann noch machen?
Wir waren jetzt schon über eine Stunde da und hatten über Verkaufspreise noch gar nicht gesprochen. Dieses Treffen einen Tag vor diesem Wohnungsflohmarkt war nicht zuletzt deshalb eine vollkommen überflüssige Veranstaltung. Ich hatte jetzt endgültig die Schnauze voll. Als Sunny zum wiederholten Male Bertas und mein mangelndes Engagement beklagte, sprach ich das aus, was mir die ganze Zeit im Kopf herum schwirrte.
„Dann macht die Scheiße hier doch alleine. Das Geld könnt ihr von mir aus behalten." Dies sagte ich zwar in Blickrichtung auf Sunny und Reiner, aber Berta schloss ich hierbei ja doch irgendwie mit ein. Denn Berta half Sunny wenigstens noch beim Aufstellen von Geschirr und anderen Gegenständen. Der Tapeziertisch füllte sich bereits. Ich dagegen hatte mich verkrümelt, vor Vaters Schränkchen quasi verschanzt.
Meine Löwin hatte schon längst die Nase voll. Auch wegen ihrer Entzündung im Bein stand sie auf und ging Richtung Tür. „Ich gehe jetzt", sagte sie nur lapidar in die Runde. Und im Vorbeigehen zu mir: „Ich warte unten im Auto." Mehr sagte sie nicht. Sie durchquerte den Flur und verschwand durch die Wohnungstür.
Ich wunderte mich noch, dass Sunny energisch meiner Löwin folgte. Kurz horchte ich hin, ob es im Treppenhaus noch zu einem Eklat kommen würde. Denn eines dürfte wohl klar sein, und meine Löwin bestätigte mir dies später auf Anfrage auch: Wenn Sunny meine Löwin auch nur angefasst hätte, dann wäre meiner Löwin die Hand ausgerutscht. Meine Frau war nämlich so richtig sauer. Sie vermutete hinter all den verbalen Anfeindungen durch Sunny ein taktisches Kalkül mit dem Ziel, Berta und mich von wichtigen Dingen abzulenken und uns durch Einschüchterungen mürbe zu machen.
Denn da war noch dieses Notizbuch, wo Mutter (und vorher Vater) aufgeschrieben hatte, wer von uns Kindern wie viel Geld „vorab" erhalten hatte. Das sollte dann „später" ausgeglichen werden. Später war jetzt, auf einen Ausgleich hatte ich bereits bei unserem ersten gemeinsamen Treffen in Mutters Wohnung nach ihrem Tod verzichtet. Als ich das Notizbuch in den Händen hielt. Weil ich kein böses Blut wollte.
Ob Sunny dies wirklich so eiskalt durchgezogen hatte, bloß damit wir das Notizbuch vergessen würden, vermag ich nicht abzuschätzen. Ist eigentlich auch müßig; wir werden es eh nie erfahren.
Kurz nach meiner Löwin war ich auch mit dem Einsammeln der Fotos und anderer Utensilien fertig. Zwischendurch hatte ich ja bereits gesagt, dass ich die Sachen, also mehr die Fotos, einscannen würde. Zu einer Verabschiedung konnte ich mich nicht durchringen, dazu hatte mich Sunny zu sehr durchbeleidigt. Und auch der Schock ob meines asozialen Spruches saß bei mir immer noch tief.
Grußlos verließ ich die Wohnung von Mutter, voll beladen mit den Fotos und den anderen Erinnerungsstücken. Sunny rief mir wohl noch ein paar Beleidigungen hinterher, aber an den Wortlaut dieser Rufe kann ich mich nicht erinnern, denn ich hatte meine Ohren mehr oder weniger auf Durchzug geschaltet. Im Treppenhaus kam mir Reiner von unten entgegen; er hatte noch irgend etwas aus dem Auto geholt.
„Mach gut, Reiner", sagte ich ihm noch und ging weiter. Unten, auf dem Parkplatz, traf ich meine Löwin nach kurzer Suche. Sie hatte einem älteren Herrn geholfen, der sich wohl an der Tür seines Bullys gestoßen hatte. Oder dem seines Sohnes, egal. Bud schlich da auch schon herum, oder kam unmittelbar nach mir die drei Stockwerke hinunter.
Wir warteten zusammen noch kurz, ob Berta ebenfalls gleich zu uns stoßen würde, aber sie brauchte wohl noch etwas Zeit. So verabschieden wir uns von Bud und fuhren nach Hause. Ich war einerseits ob der aggressiven Stimmung von Sunny angesäuert, andererseits auch wieder happy, weil ich am nächsten Tag meine Zeit nicht noch nutzlos bei dem Wohnungsflohmarkt verbringen musste.

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