Mittwoch, 26. Dezember 2018

Hartmudo: Mutter


38
Das Geld aus dem Verkauf der Juwelen habe ich übrigens noch heute bei mir zuhause rumliegen. Über 5000,-€ liegen doch tatsächlich nach wie vor achtlos in unserer Wohnung, ich habe das Geld nicht mehr angerührt, seitdem ich es in eine alte Geldbörse gepackt hatte. Als ob ich mir eine tödliche Krankheit einhandeln würde, wenn ich es anfasse oder auch nur ansehe.
Ich erwähne dies ausdrücklich wegen Sunny's dämlichen „bevor Ihr über die Beute herfallt" Spruch. Dabei war sie es doch gewesen, die beim Juwelier so geierig war. Nach dieser WhatsApp Nachricht war ich noch den ganzen Abend verärgert. Nur gut, das meine Löwin und ich noch etwas vorhatten.
Zusammen mit Patti und Pocke waren wir bei Tillmann, dem Straßenbahnfahrer, und seiner Heidi eingeladen. Bei ihm um die Ecke wollten wir zum Griechen, nein, waren wir beim Griechen. Das Essen war sehr lecker dort und gut gesoffen hatten wir noch dazu. Bei mir spülte der bizarre Vormittag beim Juwelier das Pils etwas schneller durch die Kehle, auch die kleinen Spaßmacher passten noch hinein.
Ein wenig hatten meine Löwin und ich den anderen auch darüber erzählt. So konnten wir uns unseren Ärger etwas Luft machen. Auf alle Fälle war es besonders für meine Löwin gut, etwas Abwechslung durch Tillmann und Heidi zu bekommen. Das stumpfe Herauskloppen der Steine aus Mutters Schmuck ging meiner Löwin doch sehr nahe.
Denn auch wenn sie von Mutter wegen deren Verhalten nach Walters Tod, vor allem der schräge Auftritt mit der Telefonnummer von Walters Schwägerin aus Florida und Mutters abschätzigem Brief an meine Löwin, mit Mutter nie mehr richtig warm wurde, so war und ist meine Löwin sehr sensibilisiert, wenn es um die Gefühle ihrer Mitmenschen geht.
Und meine Löwin war sogar über ihren Schatten gesprungen und hatte mich dazu gedrängt, den Kontakt mit Mutter wieder aufzunehmen. Ich glaube nicht, dass Berta geschweige denn Sunny das so hinbekommen hätten. Von alleine hätte ich dies jedenfalls nicht gemacht, da sind wir alle in der Familie „ein Kopp, ein Arsch". Und versteht das nicht falsch, liebe Leute: Ich bin meiner Löwin dankbar dafür, das sie mich dementsprechend zum Kontakt mit Mutter anregte. Schließlich war Mutter nicht mehr die Jüngste, da musst Du einfach Abstriche machen. Alte Menschen sind sehr egoistisch, weil sie nichts mehr zu verlieren haben. Hoffentlich werde ich nicht auch mal so.
Indem meine Löwin und ich bei Tillmann auf andere Gedanken kommen konnten, klang der Abend nicht ganz so deprimierend aus, wie der Tag größtenteils verlaufen war. Das hing bei mir leider mit einigem an Alkohol zusammen, aber was soll das. Als wir Patti und Pocke zuhause abgeliefert hatten, verfiel ich wenigstens nicht in eine sinnlose Nachdenklichkeit, die nötige Bettschwere hatte ich ja bereits erreicht.
Am Sonntag kreisten die düsteren Gedanken dann doch wieder durch meinen Kopf. Die Geschichte mit der schwarzen Tasche ging mir nach dem Aufstehen nicht mehr aus dem Kopf. Der wahrscheinliche Auslöser von Sunnys Aggressionen lag am Samstag Vormittag beim Juwelier auf dem Glastresen seiner Vitrinen.
Das musste doch die Tasche sämtlicher Streiteren gewesen sein, zumal dort drin die Sparbücher waren, welche Berta angeblich unterschlagen hatte. Das Sunny in ihrer Bräsigkeit gar nicht schnallte, das es die Sparbücher von Walter waren und Berta beim besten Willen nie nicht an das dort noch verbuchte Geld herankommen konnte, wäre normalerweise ein Fakt, der zur Heiterkeit anregen könnte, wenn es nicht so traurig wäre.
Unter irgendeinem Vorwand rief ich Berta Sonntagabend an, vielleicht aber gab es doch einen Grund zum Anruf. An, jetzt weiß ich es wieder. Ich wollte einfach nur mal wissen, wir es meiner Schwester geht, da ich mich selbst nicht wohlauf fühlte. Die ganze Situation war einfach unbefriedigend. War das alles jetzt einfach nur ein Missverständnis?
Es hätte ausgereicht, wenn Sunny ihren Irrtum mit der Tasche, die dann wohl doch nicht mit Steinen aus Strass besetzt war, eingestanden hätte. „Das kann ja mal passieren" hätte ich dann großmütig gesagt und wir alle Drei könnten danach vorsichtig nochmal zusammen durchstarten. Mann, wäre das gut gewesen.
Aber nein, so lief das natürlich nicht. Berta hatte mal wieder die ganze Nacht nicht geschlafen und wirkte am Telefon auch dementsprechend angezählt. Sie sprach langsam, wie in Trance. Ich erzählte ihr von meinem kurzen Gespräch mit Sunny wegen der schwarzen Tasche am Tresen des Juweliers, aber Berta hörte mir nicht wirklich zu. Sie verstand die Zusammenhänge des Wiederauftauchens der Tasche mit dem Vorwurf der Unterschlagung von Wertsachen, den Sunny beim Treffen in Mutters Wohnung geäußert hatte, in keinster Weise.
Als wäre Berta vollkommen weggetreten, musste ich ihr alles haarklein auseinandersetzen, bis sie es endlich begriffen hatte. Mich machte das schon gleich wieder aggressiv, wieso verstand sie diesen simplen Zusammenhang bloß nicht?
Weil bei Berta etwas vollkommen anderes im Kopf herumspukte. Schon in der Kindheit, noch vor meiner Geburt, hatten sich meine beiden Sestras in den Haaren. Hierbei hatte sich Sunny laut Berta schon immer mit Lügen beholfen und sie ständig unterdrückt. Und trotzdem hatte Berta als eigentlich ältere und größere Schwester gute Miene zum bösen Spiel gemacht und Sunny immer wieder geholfen.
Auch als Erwachsene blieben beide bei diesem Verhaltensmuster. Berta lieh Sunny Geld und wurde angepöbelt, wenn sie einfach nur mal sanft nach einer Rückzahlung fragte. Sie hatte auf die gerade geborene Dörte aufgepasst, damit Sunny die paar Monate bis zur Berechtigung einer Betriebsrente noch bei Siemens arbeiten konnte. Immer wieder hatte sie Sunny abgeholt, wenn diese irgendwo hin musste. Denn bis vor kurzem hatte Sunny kein Auto, traute sich auch nicht selbst hinter das Steuer.
Und nun, so das Fazit von Berta, brauchte Sunny sie nicht mehr und warf Berta weg wie einen alten Schuh. Diese Ansicht hatte sich bei Berta unwiderruflich verfestigt. In diesem Punkt ist Berta genau so verbohrt wie Sunny mit ihrem Benachteiligungstick, das wurde mir schnell klar. Vorbei war das kleine Fünkchen Hoffnung, das wir drei uns noch einmal gütlich einigen und Missverständnisse ausräumen könnten.
Ganz am Ende - ich wurde immer saurer - konnte ich Berta offenbar doch davon überzeugen, das sich Sunny mit der schwarzen Tasche, ob Strass oder nicht, einfach nur getäuscht hatte. Aber leider war dies für Berta mittlerweile vollkommen nebensächlich geworden. Die Differenzen zwischen meinen beiden Schwestern entstanden schon in der Kindheit, und jetzt, mit Mutters Tod, fielen sämtliche Dämme. Feuer frei.
Zuvor am Tag hatte ich von Sunny noch eine WhatsApp bekommen, in der sie mitteilte, das Reiner und sie noch am selben Tag mit einem Schätzer für die vermaledeiten Teppiche in Mutters Wohnung gehen würden. Sie rechnete wohl damit, das Berta oder ich mitkommen würden. Und das ich mich nicht einmal zurückmeldete, hatte Sunny dann wohl doch geärgert.
Denn noch kurz nach meinem Gespräch mit Berta, gerade als ich mich in meinem Schreibtischstuhl entnervt zurücklehnte, klingelte das Telefon. Meine Löwin sprach noch kurz mit Reiner. Beide kamen ohne gegenseitiges Anschreien aus, was ja schon mal gut ist. Daher war ich überrascht, als sie mir den Hörer in die Hand drückte.
„Reiner", sagte meine Löwin kommentarlos. Und tatsächlich erzählte mir Reiner dann vollkommen ruhig von der Begegnung mit dem Schätzer für die Teppiche. Was Reiner da zu berichten hatte, interessierte mich allerdings nicht die Bohne. Wohl deshalb weiß ich nichts mehr von den Preisvorstellungen des Schätzers. Ich war so erstaunt von Reiners freundlicher und sachlichen Stimme, das ich argwöhnisch auf einen Wutausbruch von ihm wartete. Das hatten wir ja in der Vorwoche in Mutters Wohnung erleben dürfen.
Doch Reiner blieb bis zum Schluss des viertelstündigen Gespräches ruhig, erstaunlich. Gegen Ende äußerte er Sunnys wie auch seine Enttäuschung über mein Fehlverhalten,weil ich mich einfach so auf die Seite von Berta geschlagen hätte. Hierzu wolle mir Sunny auch noch einen Brief oder ne Mail schreiben, wenn alles vorbei sei.
So das Statement von Reiner. Schön, das er ruhig blieb. Ansonsten ging mir das an diesem Abend komplett am Arsch vorbei, aber so was von.

Dienstag, 25. Dezember 2018

Hartmudo: Mutter


37
Aber warum hatte ich so ein merkwürdiges Gefühl nach dem Juwelier? Was störte mich an der Aktion im Juwelierladen, wieso hinterließ der Verkauf von Mutters Schmuck so einen schalen Beigeschmack? Ich hatte das Gefühl einer großen Leere in mir; selbst bei der Trauerfeier für unsere Mutter oder der Seebestattung ging es mir besser.
Die absolute Härte folgte aber am frühen Abend. Als ich aus meinem Mittagsschlaf aufwachte und meine WhatsApp Nachrichten las, fiel mir sofort eine Nachricht vom frühen Nachmittag ins Auge. Sunny hatte geschrieben.
„Bevor Ihr über die Beute herfallt und aufteilt, wollte ich nur mal sagen, dass ich eine Perlenkette als Andenken an unsere Mutter haben möchte. Bitte richte es unserer Schwester aus."
‚Richte es unserer Schwester aus' - das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Für Sunny war Berta's Name nicht mehr wert, ausgesprochen zu werden. Wie tief muss Hass sitzen, um sich so zu gebärden? Und überhaupt, bin ich jetzt ihr Dienstbote?
Die ganze Art von Sunny, das Anpöbeln und Unterstellen der Unterschlagung von Schmuck gegenüber Berta am Dienstag. Dieses genervt herrische ‚jetzt muss endlich mal Schluss sein“ beim Juwelier oder diese WhatsApp Nachricht. Dieses unreflektierte Unterstellen von Fehlverhalten und vor allem das permanente Anschreien. Solche Verhaltensweisen kenne ich eigentlich nur von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Oder sollte sich die räumliche Nähe zum Atomendlager Asse doch bereits bemerkbar machen? So eine bösartige Natter!
Meine Löwin, auch Bud, hatten vollkommen Recht. Vor allem meiner Löwin fiel es auf, das Berta und ich uns durch das laute Schreien von Sunny einschüchtern ließen. So bekommt Sunny dann vollkommen unnötig alles durch, nur weil Berta und ich um des lieben Friedens Willen einfach die Schnauze halten.
Jeder Schlag des Juweliers mit dem Hammer auf Mutters Schmuck, um die „wertlosen" Brillianten aus dem Schmuck zu brechen, tat meiner Löwin in der Seele weh. Noch heute fangen die Augen meiner Löwin an zu tränen, wenn sie von dieser unrühmlichen Szene im Juwelierladen spricht. Und ich stand da auch nur dumm im Laden rum, wollte einfach nur weg, machte aber nichts. Es sollte nur vorübergehen, der Rest war mir egal gewesen. Ich denke, dass es Berta haargenau so ging.
Den wesentlichen Punkt bei diesem müden Geschachere im Juwelierladen - wie auch später noch beim Verscherbeln der Wohnungseinrichtung - möchte ich jetzt erwähnen. Schlimm genug, das ich erst durch einige Anmerkungen meiner Löwin darüber genauer nachdachte, was da eigentlich passiert war.
Da wurde Mutters Leben einfach so weggeworfen, achtlos wie ein alter Lappen. Mutters Kinder waren so mit sich selbst beschäftigt, dass die Achtung vor Mutters Habseligkeiten schlichtweg auf der Strecke blieb. Für uns mag das vielleicht nur Plunder gewesen sein, aber all der Schmuck und die Käthe Kruse Puppen erfreuten ihr Herz.
Was hatten wir uns nicht alle über die Orientteppiche lustig gemacht. Und darüber, wie wichtig Mutter immer die Schonung dieser Staubfänger war. Sie und Walter hatten garantiert viel zu viel Geld für die Teppiche gezahlt, aber in ihren Augen waren sie wertvoll. Es mag zwar eine Art Puppenstube gewesen sein, aber die Wohnung war so eingerichtet, wie sie es wollte. Das war ihr Zuhause, hier fühlte sie sich geborgen.
Dann noch die eben erwähnten Käthe Kruse Puppen, der Schmuck und dieser antike Tisch mit den roten und dazugehörigen Stühlen. Für all diese Dinge hatte unsere Mutter viel Geld gezahlt, sie hatte sie ohne Ende geschont, bloss damit ihre Kinder nach ihrem Tod nichts besseres zu tun hatten, als all die Gegenstànde, die Mutter lieb und teuer waren, schnellstmöglich zu entsorgen.
Nachdem mir meine Löwin das vollkommen zu Recht unter die Nase geschmiert hatte, blutete auch mir das Herz. Was bleibt dann von einem Leben noch? Ich kann mich sehr gut daran erinnern, das Mutter ihre Schuhe vor der Wohnungstür auszog, damit die kostbaren Teppiche ja keinen Schaden nehmen würden. Bei den wenigen Malen, die meine Löwin oder ich bei ihr zu Besuch waren, zogen wir uns deshalb auch unsere Schuhe aus.
Mutter ging sogar bis zum Äußersten. Sie setzte sich nicht auf ihre Couch oder gar einen Sessel, nein. Wenn sie Fernsehen schaute, saß sie auf einem der roten Stühle an dem antiken Tisch. Ein Handtuch hatte sie sich darunter gelegt, um den Sitzbezug zu schonen. Und sie fläzte sich nicht einfach so dahin, sondern saß ganz starr auf dem Stuhl, die Arme verschränkt. Den Tisch berührte sie dabei nicht, sie war sichtlich bemüht, ihre Sachen zu schonen.
Als ich das seinerzeit bei einem Besuch mal mitbekam, ergriff mich ein tiefes Gefühl der Ehrfurcht. Ja, so war die Generation unserer Eltern. In den 20ern geboren, lebten sie nicht wie wir heutzutage in einer Wegwerfgesellschaft. Unsere Eltern schonten ihre Sachen, weil sie sich diese sauer verdient hatten. Sozusagen vom Munde abgespart, das kennt die heutige Jugend gar nicht mehr.
Unser Wohnzimmer in der Kindheit wurde quasi nie benutzt, obwohl dort ab Mitte der 70er ein großer Fernseher stand. Wir saßen immer im kleinen Zimmer im 1. Stock unseres Reihenhauses in Melverode. In diesem kleinen, aber vollgestellten Zimmer spielte sich das gesamte Familienleben ab. Oder aber in der Küche, in der mein Vater jeden Tag mindestens eine Stunde lang seinen Lottotip austüftelte.
Meine Eltern hatten sich nie etwas gegönnt. Als ich klein war, wurde alles Geld straff zusammengehalten. Erst als meine Mutter selber arbeiten ging (ab 1969), leistete sie sich ihre Reisen. Mein Vater blieb sparsam wie eh und je.
Nach Vaters Tod und dem Verkauf des Reihenhauses richtete Mutter sich ihre Wohnung so ein, wie sie es mochte. Wohl zum ersten Mal in ihrem Leben, also mit Anfang 70, fühlte sie sich frei. Sie hing an ihrer Wohnung, alles war ordentlich eingerichtet. Voller Stolz präsentierte sie all die Jahre ihren Schmuck, wenn Walter und sie mit meiner Löwin und mir unterwegs waren.
Die Teppiche, ihre Käthe Kruse Puppen... Und der Juwelier haute achtlos mit dem Hammer drauf. Da ging es hin, das Leben meiner Mutter. All ihre Anstrengungen, all die Mühen. Weg, vergessen. Sunny war da, zumindest an dem Vormittag, schmerzfrei. Aber Berta und ich waren beim Juwelier auch nicht besser.
Nach knapp eineinhalb Monaten waren wir Geschwister schon so abgestumpft, das uns das alles nichts bedeutete. Es konnte uns nicht schnell genug gehen, wir waren vollkommen mit uns selbst beschäftigt. Mutter war uns fremd geworden, auch in ihrem Leben nach Vaters Tod. Das muss ich jetzt so krass formulieren. Sicher hatten meine Löwin und ich uns um sie bis zum Zerwürfnis wegen Walters Testament noch am meisten gekümmert. Aber was in Mutter selbst vorging, habe ich zumindest nie reflektiert.

Montag, 24. Dezember 2018

Hartmudo: Mutter


36
Ich war beim Holen des Kaffees froh, wenigstens für ein paar Minuten der beklemmenden Atmosphäre im Laden des Juweliers entronnen zu sein. Als ich mit dem Kaffee für Sunny und mich zurückkehrte, war die Stimmung immer noch unverändert schlecht.
Und dann war da noch die Szene mit der Tasche. Die nicht aufzufindende Abendhandtasche, mit Strass besetzt, die Berta angeblich mitgenommen haben sollte. Ich stand direkt vor dem Haufen aus Boxen, Taschen etc. mit dem ganzen Schmuck. Das gesamte Package lag oben auf der Auslage, hinter diesen Glasvitrinen stand der Juwelier und begutachtete den Schmuck mit seiner Lupe, Stück für Stück.
„Da ist ja die Tasche!" Sunny sagte dies, direkt neben mir vor der Vitrine stehend, relativ leise vor sich hin, an niemanden direkt gerichtet. Erstaunt drehte ich mich zu Sunny um. Sollte es wahr sein, das der Grund für unser wohl endgültiges Zerwürfnis direkt vor unserer Nase lag? Wie doof ist das denn!
„Willst Du Dir die Sparbücher jetzt nicht noch mal ansehen, Sunny? Das wolltest Du doch," sagte ich, nachdem ich in dieser Tasche sogar noch die von Reiner und Sunny vermissten Sparbücher entdeckt hatte.
„Ach nee, das ist jetzt sowieso zu spät," meinte sie nur leise. Und schon war die Angelegenheit für sie erledigt. Einfach so, die dusselige Kuh hätte sich einfach nur mal entschuldigen können. So etwas passiert halt mal in der ganzen Aufregung. Und selbst, wenn sie sich nicht entschuldigt hätte, aber ihren Irrtümern vom Dienstag mit der falschen Beschuldigung von Berta einsehen könnte. Aber nein, es interessierte sie offensichtlich gar nicht, wie sich das Verhältnis zu ihren Geschwistern entwickelte. Da war ich richtiggehend baff.
Berta hatte von dieser Unterhaltung übrigens nichts mitbekommen. Wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird, stand sie etwas abseits hinter Sunny und mir und hing ihren dunklen Gedanken nach. Berta war in einer Schockstarre gefangen, sie war noch nicht einmal ansprechbar. Was für eine Qual diese Farce für sie gewesen sein muss, das wird mir erst jetzt, Monate später, so richtig bewusst.
Besonders nervig empfand ich den Juwelier in den Momenten, wo er den Mangel einer Kette oder das unechte Material eines Rings ausschließlich mir ausführlich erklärte. Weder Sunny noch Berta - okay, letztere war sowieso nicht ansprechbar - sprach er dann direkt an, immer nur mich. Einmal drückte er mir sogar seine Augenlupe in die Hand, damit ich mich persönlich vom Makel des Schmuckstücks überzeugen konnte.
Ich klemmte mir das Teil in mein linkes Auge (ist ja wie bei James Bond) und schaute mir die Halskette lustlos an. Dachte er, ich wäre so misstrauisch oder was? Das ich kompetent ausgesehen hatte, kann man nun wirklich nicht sagen. Auch seine Frau gefiel mir in keinster Weise. Die ganze Zeit schlich sie im Laden herum, sprach nur mit Sunny oder Reiner und drückte allein durch ihre Körpersprache eine spürbare Abneigung Berta und mir gegenüber aus.
Meine Löwin und Bud habe ich eben bewusst nicht erwähnt, weil beide zwar anwesend waren, um Berta und mich zu unterstützen, aber im Gegensatz zu Reiner hatten sie sich aus allen Diskussionen herausgehalten.
Irgendwann war der Juwelier endlich fertig, ich konnte sein endloses Geseiere nicht mehr ertragen. Er hatte seine Häufchen mit Silber und Gold auf dem Tresen der gläsernen Vitrinen liegen, jetzt ging es ans Wiegen und damit zur Bestimmung seines Ankaufspreises. Der Juwelier ließ uns die Wahl bei den Schmuckstücken, die noch mit Edelsteinen versehen waren. Entweder er wiegt den Schmuck so, wie er ist, und schätzt dann den Edelmetallanteil ohne die Edelsteine, oder aber er bricht die Edelsteine raus und wiegt lediglich das Metall. Das er sich beim Schätzen nicht zu seinen Ungunsten den Metallanteil bestimmen würde, erwähnte er vorsichtshalber gleich.
„Ja, dann brech sie raus." sagte Sunny mit ruhiger Stimme, zumal der Juwelier die ganze Zeit nicht müde geworden war, uns die Wertlosigkeit bzw. Unverkäuflichkeit der eingefassten Edelsteine zu erklären.
Jetzt startete meine Löwin doch noch einmal den Versuch, einen sinnvollen Vorschlag anzubringen. „Dann lasst den Schmuck mit den Edelsteinen doch einfach nur schätzen und dann sein Angebot hören. Wir können es immer noch woanders versuchen." warf meine Löwin so oder so ähnlich ein. Das wäre ja auch das Vernünftigste gewesen, normalerweise.
Aber in meiner Familie ist nichts normal. „Nein, jetzt muss endlich mal Schluss sein. Das reicht jetzt hin. Ich will, das es endlich vorbei ist. Schlag die Steine raus!" Sunny war binnen Sekundenfrist außer Rand und Band, ihre schrille Stimme hatte wundersamer Weise das Glas der Vitrinen nicht zum Zerspringen gebracht.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, das ich dem Herausschlagen der Edelsteine zugestimmt habe. Ich war durch. Der Streit vom Dienstag und die Hackfressen von Sunny und Reiner hatten mich zermürbt, auch ich wollte nur noch ein schnelles Ende sehen, damit die leidige Angelegenheit vorbei ist. Berta sagte gar keinen Ton, sie wirkte schon die gesamte Zeit beim Juwelier wie paralysiert, eingeschüchtert von Sunny's großer Klappe.
Bei mir war das allerdings auch nicht anders, und so stand ich wie Berta auch regungslos mitten im Laden, während der Juwelier die Steine herausbrach oder auch kloppte. Erst versuchte er es vorsichtig, um die Steine zu schonen. Doch als er bei einer Halskette mit Diamanten nicht weiterkam, schrie Sunny unvermittelt: „Hau sie doch raus, ist doch egal jetzt!"
Ich wollte nur noch nach Hause, und zwar schnell. Leider war meine Anwesenheit erforderlich, so dass es noch einige, sehr quälende Momente zu überstehen galt. Die letzten Schmuckstücke zerkloppte der Juwelier im Hintergrund, aber irgendwann war er fertig und ging dann nach hinten in sein Büro, um das Geld zu holen.
Über 15.000 Euro hatte er errechnet und schrieb uns eine handschriftliche Quittung, die seine Frau auch sofort kopierte, auf das er sie quittierte. Wundersamer Weise hatte er auch genau so viel Bargeld in seinem Büro. Da stand er also mit dem großen Bündel 500er hinter seinem großen Tresen gegenüber der Eingangstür und fragte uns, ob er das weiter hinten verteilen sollte.
„Ach, mach das doch gleich hier. Teil das auf in drei Haufen und gut ist." Sunny war jetzt sehr resolut in ihren Ansagen, während Berta und ich gar nichts mehr sagten. Eingeschüchtert, ja, das waren wir zweifelsfrei. Wir hatten uns von Sunny wirklich am Nasenring durch die Manege führen lassen, anders kann ich es nicht beschreiben.
‚Wo bin ich hier', fragte ich mich fassungslos. Ich fühlte mich wie in einem billigen Mafiafilm. Ich schaute aus dem Schaufenster auf die stark befahrene Straße; nicht wenige Fußgänger gingen am Schaufenster vorbei, während der Juwelier die 500 € Scheine auf drei Stapel verteilte. Immer zwei Scheine pro Stapel.
„Eintausend, eintausend, eintausend. Zweitausend, zweitausend, zweitausend..." und so weiter zählte und verteilte der Juwelier den Wert des Geschmeides auf dem Tresen seines Ladens. Draußen schien derweil die Sonne so schön, doch ich konnte mich nicht wirklich daran erfreuen.
Als er dann mit dieser peinlichen Nummer endlich fertig war, griff Sunny sofort und zügig nach einem Stapel. „Mal langsam, nicht so schnell. Bleib doch mal ruhig“, entfuhr es meiner Löwin spontan, die ob der Gierigkeit von Sunny sichtlich angewidert war. Auch Berta und ich sammelten je einen Haufen ein.
Ach ja. Nachdem der Juwelier seine Scheine verteilt hatte, blieb noch ein Hunderter übrig. Den wechselte er nochmal in Zehner, damit sich auch ja niemand benachteiligt fühlen musste. Den dann noch übrig gebliebenen Zehner bekam ich dann. „Du hast ja schließlich auch den Kaffee bezahlt", sagte Sunny großzügig. Peinlich, aber ich nahm das Geld trotzdem. Wollte es wohl Berta noch geben, die wollte aber auch nicht.
Dann war der Spuk vorbei, Berta und Bud verließen den Laden grußlos, während ich mir noch ein „Tschüss" rausquälte. Am Freitag nächster Woche würden wir uns zur Vorbereitung des Wohnungsflohmarktes in Mutters Wohnung wiedersehen müssen. Wie in Trance gingen wir auseinander, zuhause mussten sich meine Löwin und ich erst einmal hinlegen.

Sonntag, 23. Dezember 2018

Hartmudo: Mutter

35
Meine Vorfreude auf das Treffen beim Juwelier am Samstag, dem 19. November, hielt sich also in Grenzen. Beim Solo am Vorabend schlorkte ich noch das eine oder andere Bierchen, auch zuhause unter dem Kopfhörer arbeitete ich mich zu den sanften Klängen von Family 5 an ein oder zwei Pülleken ab.
Und dann endlich... Samstag, Showdown!
Meine Löwin und ich hatten uns mit Berta und Bud auf dem obersten Deck der Karstadt Spindel verabredet. Schließlich wollten meine Löwin und ich beim Tragen helfen. Das Ganze ca. eine Viertelstunde vor dem Termin, denn wir wollten nicht verfrüht beim Juwelier sein. Nach dem Eklat vor wenigen Tagen in Mutters Wohnung wäre jede Minute mehr mit Reiner und Sunny eine Minute zu viel gewesen.
Die Atmosphäre war ja nach dem Vorwurf, Berta hätte da eventuell etwas beiseite geschafft, nein, nicht eventuell, ich vergesse da die kleine schwarze Tasche, die mit Strass besetzte Abendhandtasche, vergiftet. Und der rüde Ton, den Reiner und Sunny dabei zeigten, wirkte nicht nur auf Berta abstoßend.
Die Vorfreude auf das Treffen beim Juwelier hielt sich also in Grenzen. Das spiegelte sich garantiert auch in unseren Gesichtern wieder, als wir uns auf dem Parkdeck mit Berta und Bud trafen. Ich würde einfach mal sagen, das wir alle bei der Trauerfeier von Mutter ein fröhlicheres Gesicht gezeigt hatten.
Jeder von uns schnappte sich eine Kiste, Kästchen oder was auch immer. Alsdann gingen wir Richtung Juwelier. Berta und ich fühlten uns - im Gegensatz zu meiner Löwin und Bud - wie Lämmer, die zur Schlachtbank geführt wurden. Ich kann mich noch erinnern, das ich selbst krampfhaft versuchte, einen fröhlichen Eindruck zu vermitteln. Das gelang mir jedoch nicht wirklich.
Als wir dann um die Ecke auf der Goerdelinger Str. auf die Zielgerade einbogen, sahen wir Sunny und Reiner schon durch die Schaufensterscheibe im Laden stehen. Wir nötigten uns ein kurzes, frostiges „guten Morgen" ab und stellten die Kästen und Boxen mit dem Schmuck auf einen der vielen gläsernen Verkaufsvitrinen, seitlich und weit vom Eingang, im Laden ab. Die Stimmung war leicht unterkühlt.
Der Ladeninhaber, ein schlanker Mann mit Gesichtspullover, begrüßte uns alle freundlich mit Handschlag und erklärte uns anschließend gleich das Prozedere. Er würde den gesamten Schmuck sichten und auf Echtheit des Materials prüfen. Hierbei sind für ihn lediglich Gold und Silber interessant. Dementsprechend wollte er die einzelnen Teile erst einmal sortieren.
Er erwähnte auch gleich, das er den Laden bald aufgeben würde. Deshalb könnte er sich lediglich auf den reinen Metallwert konzentrieren, da er sich nichts mehr hinlegen wollte, weil er das nicht mehr verkauft kriegen würde. Das Metall würde somit wohl eingeschmolzen werden. Auf gut Deutsch: Er würde uns den reinen Metallwert bezahlen.
Nach dieser kurzen Einführung ging es los. Er öffnete das erste Schmuckkästchen und betrachtete die Ketten, Ringe oder Uhren jeweils einzeln und hoch konzentriert. Er sagte auch immer gleich, um was für Material es sich handelte. Haarklein erklärte er z.B. den Unterschied zwischen echtem Gold oder lediglich vergoldeten Schmuckstücken. Über eingefasste Modesteine, die keinen Wert besäßen, lachte er nur.
Meine Löwin und Bud hielten sich bewußt im Hintergrund auf, beide saßen auf einer Bank neben dem Eingang. Reiner hielt sich ebenfalls im Hintergrund auf, stand aber mitten im Raum. Während der gesamten Zeit wuselte die Frau des Juweliers durch den Laden. Mal wischte sie die Glasvitrine mit den Ausstellungsstücken, mal auch die Schaufensterscheibe sowie die Auslage dort.
Dabei, also als sie im Schaufenster hantierte, scherzte sie ungezwungen mit Sunny, die in diesen Momenten ihre betonharte Hassfratze etwas auflockern konnte. Auch meine Löwin versuchte sich im Gespräch mit der Frau des Juweliers. Wie sie mir später allerdings berichten musste, zeigte sich die Frau meiner Löwin gegenüber richtiggehend abweisend. Meine Löwin spürt so etwas, das bildet sie sich nicht ein.
Ich denke, das ist der Verbindung des Juweliers mit den Freunden von Reiner und Sunny, Frankie und Grace, geschuldet. Das Sunny dem Juwelier natürlich ihre Sicht der Dinge erzählt hatte, als da wäre z.B. das „klammheimliche" Entfernen des Schmucks von Mutter durch Berta aus der Wohnung, dürfte klar sein. Und das Sunny sich dem Juwelier gegenüber als benachteiligte Schwester darstellt, die von ihren Geschwistern untergebuttert werden soll, dürfte nicht verwundern.
Vielleicht endstand die kühle Ablehnung meiner Löwin durch die Juweliersfrau aber auch aus einem anderen Grund. Während der ausführlichen Erklärungen des Juweliers wagte sie es doch unverschämterweise zu fragen, ob man die Ketten mit Rubinen und Diamanten nicht erst einmal nur schätzen lassen sollte.
Denn der Juwelier hatte sich ja gleich zu Anfang seines Vortrags dahingehend geäußert, dass er nur den reinen Metallwert schätzen würde und sich aufgrund der Geschäftsschließung nichts hinlegen könnte. Dazu bezeichnete er diese Steine später als wertlos bzw. unverkäuflich.
Jedenfalls verließ Reiner ruckartig (Turr-bo!) den Laden, als meine Löwin den Vorschlag wagte, die entsprechenden Ketten lediglich schätzen zu lassen. „Ich halt das nicht mehr aus!", waren Reiner's Worte beim Hinauslaufen. „Dafür werde ich Ihnen kein Angebot machen" erklärte der Juwelier daraufhin mit entschlossener Stimme.
Ich denke heute, das der Verkauf des Schmucks an diesem Tag von vornherein zwischen dem Juwelier und Sunny abgesprochen war, wie der weitere Verlauf des Vormittags zeigen sollte. Jedenfalls prüfte der Juwelier gewissenhaft jedes Schmuckstück und erklärte mir detailgetreu, ob es sich um reines Metall oder nur um eine überzogene Schicht, mithin wertlos, handelte. Dasselbe zu den eingefassten Steinen, wobei er dort keine echten Steine benannte.
Das er seine Prüfschritte hauptsächlich mir erklärte, liegt daran, dass Berta etwas weiter entfernt rechts von mir stand und Sunny sich einen Schritt hinter mir aufhielt. Sunny brauchte er es ja nicht zu erklären, die beiden hatten bestimmt schon vorher alles klargesprochen, da bin ich heute von überzeugt. Aber Berta hàtte er bei seinem Erklärungen ruhig mit einbeziehen können.
Es ist nachvollziehbar, das Berta diese Nichtbeachtung seitens des Juweliers später mit dem schlechten Bild, dass Sunny ihm von Berta gezeichnet haben sollte, in Verbindung brachte. Dies mag zwar der in unserer Familie vorherrschenden Paranoia geschuldet sein, aber wie sagte es Philip K. Dick so schön: „Bloss weil jemand unter Verfolgungswahn leidet, heisst das nicht, das er nicht trotzdem verfolgt wird."
Da standen wir nun so mitten im Laden, und der Juwelier Griff zu einem Kettchen nach dem Ring nach der Uhr nach... Er verbog einen eigenen silbernen Löffel, um zu zeigen, das Silber weich und biegsam ist, während die vermeintlich „echten" Löffel unserer Mutter lediglich mit Silber überzogen waren, da sie sich nicht biegen ließen. Eine schöne Demonstration, Herr Lehrer.
Irgendwann fiel Sunny noch ein, dass Mutter zwei Matruschkas im Schrank stehen hatte, die Berta zusammen mit dem Schmuck gesichert hatte. „Da ist Gold dran, Gold...!“ Sunny hatte direkt leuchtende Augen und wollte wissen, wo die Matruschkas abgeblieben waren. Berta hatte diese im Auto gelassen.
Wie es so ist. Als wir uns auf dem Parkdeck getroffen hatten, wollte Berta die Matruschkas nicht mitnehmen. Ich war zwar auch nicht auf den Gedanken gekommen, das der goldfarbene Rand die Puppen zu einem hohen Wert verhilft, hätte die Puppen aber schon allein aus Prinzip mitgenommen. Man kennt ja seine Pappenheimer.
So kam es, wie es kommen musste: Berta stiefelte zurück zum Auto, um die Matruschkas zu holen. Tat ihr vielleicht auch gut, da sie ansonsten eh die ganze Zeit nur sehr angespannt an der Seite stand, während Sunny sich ab und an mit der Frau des Juweliers unterhalten konnte. Die dadurch ausgestrahlte Vertrautheit zwischen Juwelier und Sunny trug nicht gerade zur Stimmungsaufhellung bei.
Ich holte zwischenzeitlich sogar noch einen Kaffee und fragte alle, ob sie auch etwas haben wollten. Dabei vergaß ich Sunny nicht, wollte ich insgeheim halt doch eine friedliche Stimmung bewahren. Ich mag das nicht, mich zwischen Leuten aufhalten zu müssen, die auf Krawall gebürstet sind. Die Alternative dazu ist Berta's Reaktion, dabei fühl ich mich unwohl. Ich täusche da lieber eine Freundlichkeit vor, die ich gar nicht empfinde. Für den unbeteiligten Beobachter läßt das sicherlich auf einen unehrlichen Charakter schließen, aber ein Beobachter ist eben unbeteiligt und nicht in meiner Situation, in der Situation, in der ich mich an dem Tag beim Juwelier befand.

Freitag, 21. Dezember 2018

Hartmudo: Jahresabschlussbericht


2
Hamburg war aber nicht alles, was ich in der diesjährigen Weihnachtsmarktsaison abgearbeitet hatte. Die Saison begann für mich eine Woche früher, am 1. Advent. Da stand wieder der Markt in Groß Schwülper an - der erste ohne Torsten Lieberknecht, obwohl ich diesen dort bereits in den vergangenen Jahren nicht getroffen hatte.
Das Angebot von Charles, mich abzuholen, lehnte ich dankend ab, da ich dieses Mal die Strecke auf jeden Fall mit dem Fahrrad bewältigen wollte. Die Waage log schließlich nicht und zeigte schon seit Wochen höhere Werte an, weil ich dank der Maleschen mit meinem linken Unterschenkel und des regnerischen Wetters weder schwimmen noch mit dem Fahrrad strampeln konnte.
Also rollte ich am späten Vormittag mein Fahrrad aus dem Keller und freute mich tierisch auf die vor mir liegende Strecke, die ich in 45 Minuten bewältigen sollte. Einen leichten Dämpfer erhielt meine Freude in Gestalt des Nieselregens, der mir auf die Glatze pladderte. Doch es waren für Anfang Dezember angenehme Temperaturen zu verzeichnen, so dass ich das Käppi aufsetzte, meine Regenjacke bis zum Hals schloss und einfach losfuhr.
Hinter Watenbüttel hatte ich mit meinen nassen und glitschigen Fingern Probleme mit der Gangschaltung. Ich befürchtete schon, die Fahrt abbrechen zu müssen. Aber nachdem ich die Hand und den Schaltungsgriff mittels eines Tempo kurz getrocknet hatte, konnte ich die Fahrt ohne Probleme fortsetzen. Die kurzfristig düsteren Gedanken waren unnötig gewesen.
Auf dem Weihnachtsmarkt selbst wollte ich nicht allzu lange bleiben. Mary und ihre Tochter Celine - jaa, die auch nach Hamburg mitkommen sollte - unterstützten meine Löwin beim Fischverkauf, waren aber erstaunt, dass ich eins der leckeren Fischbrötchen verschmähte, weil ich lieber eine Bratwurst vertilgte. Weihnachtsgeschenke bestellen wollte ich am Nachmittag, kein Bier trinken... Angel-Arnd und seine Kollegen aus dem Vorstand hatten etwas dagegen. So schiggerte ich am Ende im Dunkeln auf dem Fahrrad nach Hause.
Ein erfolgreicher Saisonstart also. Da konnte es am folgenden Mittwoch so weitergehen. Die Weihnachtsfeier mit meinem Team vom Amt stand an. Gemeinsam besuchten wir am Nachmittag den Weihnachtsmarkt in Wolfenbüttel. Noch im Hellen gingen wir das Gelände ab und tranken den einen oder anderen Glühwein.
Die eine oder andere Kollegin konnte ich noch mit dem finnischen Glök begeistern. Dieser Beerenwein wird mit Mandeln und Rosinen veredelt - sozusagen eine Glühweinbowle. Ich trinke dieses leckere Heißgetränk gerne mit einem Mintuu Peppermint. Die Marke Mintuu solltet Ihr Euch merken; der Peppermint lockt dank 50% Spritanteil.
Hinterher hatten wir beim Wok In am Bahnhof einen Tisch bestellt. Unsere ehemalige Teamleiterin sponsorte das Buffett, bei dem das frisch zubereitete mongolische Zeugs sehr ordentlich aussah, so wie es auf den Tellern meiner Kollegen vor sich hin dampfte. Doch bei meinen diversen mongolischen Buffetts der Vergangenheit hatte ich eigentlich immer schlechte Erfahrungen gemacht, so dass ich mich lieber in einen Glutamat-Rausch hineinsteigerte. War diesmal bestimmt ein Fehler, aber einige Biere halfen mir über den Fehler hinweg.
Auf der Rückfahrt nach Braunschweig mit dem Zug war ich immer noch guter Dinge und ließ mich von meinem MP3 Player berieseln. Gegen Neun Uhr war ich in Lehndorf angekommen und sogleich im Bett verschwunden. Zwei Tage später, am Freitag, kam es erneut zum Besuch des Wolfenbüttler Weihnachtsmarkts.
Diesmal war es das Treffen der Trantüten, unserem Kegelverein. Auf dem nun besser besuchten Markt fanden wir uns nach einigem Hin und her doch noch. Berta und Bud, die etwas später einliefen, holte ich aus dem Winterwald ab. Die Jungs unseres Clubs konnte ich zu meiner Freude ebenfalls vom finnischen Glök überzeugen. Insbesondere Ralle konnte sich für die Mischung mit Mintuu Peppermint begeistern.
Meine Löwin forcierte etwas später unseren Aufbruch, da wir am folgenden Morgen bereits sehr zeitig mit Charles und Mary nach Hamburg aufbrechen mussten. Diesen Tag hatte ich ja bereits ausführlich geschildert, aber über was ich nicht geschrieben hatte, war die WhatsApp von Urmel. Pete Shelley war gestorben. Mit nur 63 Jahren verstarb der geniale Kopf der Buzzcocks, einer unserer alten Lieblingsbands, viel zu früh.
Dies nahm ich zum Anlass, um mir nach dem Weihnachtsmarkt mit den Trantüten am späten Abend die Ohrstöpsel meines Kopfhörers in die Ohren zu friemeln und mich dann an meinen letzten Wolters abzuarbeiten. Schon sehr lange hatte ich mir die Buzzcocks nicht mehr angehört und deshalb vergessen, wie gut sie eigentlich waren.
Bis um halb Zwei war ich noch dabei, vergaß auch nicht, Urmel und den anderen Jungs eine Nachricht über Whatsapp zu schreiben. Urmel spielte einst mit Turbine Murmansk eine schöne Coverversion von „E.S.P.“, dem wohl genialsten Song der Band. Urmel freute sich sogleich, dass ich mich noch an Turbine erinnern konnte.
Als ich am Morgen danach aufstand, war ich überraschend fit unterwegs. Jetzt konnte ich Hamburg in Angriff nehmen.

Freitag, 14. Dezember 2018

Hartmudo: Jahresabschlussbericht


1
Samstag, 8. Dezember 2018 so gegen 22.30 Uhr. Hartmudo sitzt gerade total genervt in der Regionalbahn 47, einem Erix, auf dem Weg zum Braunschweiger HBf. Schon seit über 2 Stunden sitzen meine Löwin und ich im Regionalverkehr auf den engen Sitzen in voll besetzten Zügen. Zusammen mit Mary und Charles waren wir an diesem Morgen nach Hamburg zum Besuch der vielen Weihnachtsmärkte gefahren; ihre Tochter Celine samt Freund Jean Paul waren ebenfalls mit von der Partie.
Genervt war ich bereits seit 2 Stunden, weil mir wie so häufig in diesem Jahr auffiel, dass ich zumeist kein Netz hatte. Von wegen LTE und so nem Scheiß. Deutschland als eine der führenden Industrienationen hat eines der schlechtesten Netze der Welt. Hierzu passt dann noch die Meldung, dass Annette Kramp-Karrenbauer die Nachfolge von der Merkel als CDU Chefin antritt.
Da steckt der Begriff „Krampe“ ja bereits im Namen drin. Das Versagen der deutschen Eliten feiert auch weiterhin fröhliche Urständ. Wenigstens nicht der Blackstone Klon Merz - der mit den Spezialdragees - werden viele sagen. Dem würde ich zustimmen, wenn ich noch daran glauben könnte, dass die Politiker tatsächlich die Macht ausüben würden (dürften), für die sie gewählt werden.
Und Frau Kramp-Karrenbauer halte ich da noch für eine schlimmere Marionette als den aalglatten Merz, der schafft es in seinen Ansprachen wenigstens, einen entschlossenen und starken Eindruck vorzugaukeln. Diese Frau mit dem Charisma einer Verkäuferin bei Rossmann trägt sogar dieselben Kostüme wie Frau Merkel. Schrecklich.
Derweil bricht meine Netzverbindung zwischenzeitlich wie üblich andauernd zusammen. Wenn ich schon mal mit meinem Smartphone im Netz Nachrichten lesen und meine Flatrate nutzen möchte, dann passiert so eine Scheiße. Je-des-mal! Dieses Land steuert knallhart auf die Pleite zu, weil unsere Eliten nur noch Vermögen auf Kosten des „kleinen Mannes“ anhäufen und die Zukunftstechnologien verpennen, da sie zu dämlich sind, in Bildung zu investieren.
Opferküsse für Eintracht

Und dass deshalb die Innovationen in der Automobilindustrie, in der Deutschland gerade seine führende Weltmarktstellung verloren hat, in China und sogar in den verschnarchten USA entwickelt werden, macht nicht gerade Hoffnung für die Zukunft der einheimischen Wirtschaft. In der heutigen Zeit möchte ich nicht mehr heranwachsen müssen.
Damit kommen wir zum zweiten Ärgernis, dem „hoffnungsvollen“ Nachwuchs. 4 dieser jungen Kerle stiegen in Gifhorn zu und quälten das Abteil mit ihrer lauten wie stumpfen Unterhaltung. „Ey, Digger! Musste Wasser trinken. Kommste sonst nich innen Club rein. Ey Alder, ist das geil...“
Natürlich waren „wir“ mit Anfang 20 auch laut und nervten unsere Umgebung. Aber wir waren nicht so stumpf im Schädel, selbst wenn wir total zugekifft waren. Es hätte nur noch gefehlt, dass einer der Kids eine Banane gepellt hätte.
Aber drehen wir die Uhr doch einfach mal um einige Stunden zurück und schauen uns das Tagesprogramm an. Wie jedes Jahr machen meine Löwin und ich eine Weihnachtsmarkt Aktion. Letztes Jahr Rhein-Main-Neckar, heuer Hamburg. Für uns hieß das vor Fünf aufstehen (wie in einer Arbeitswoche), Mary und Charles holten uns um 6.15 Uhr ab. Dann noch Jean Paul und Celine… Um 7:03 Uhr fuhr unser Zug gen Norden.
Gegen 10.00 Uhr erreichten wir Hummel Hummel und liefen gleich in den ersten Weihnachtsmarkt hinein. Hamburg hat viele Weihnachtsmärkte; Nach 2 – 3 Glühwein mit Schuss, einer wirklich leckeren Currywurst aus Currybratwurst und der einen oder anderen Toilettenpause brauchten Charles und ich einen Kaffee. Die anderen liefen weiter und wollten uns später treffen.
Na klar, es war 14.00 Uhr und Eintrachts nächster Auftritt gegen Halle stand an. Ergo enterten wir einen Starbucks; ich orderte einen großen Filterkaffee (noch jetzt beim Schreiben schüttelt es mich, wenn ich an diesen ekligen Kaffee denke). Als wir uns dann an einen Tisch setzten und Charles die Telekomm App auf seinem Huawei P10 Lite aktivierte – ohne Ton versteht sich, da lief das Spiel bereits seit 5 Minuten und wir konnten gerade noch die Wiederholung des einzigen Tores dieses niveauarmen Spiels (für Halle) und das Heraustragen von Herrn Kruse, Eintrachts nicht mehr so ganz begnadeten Torwarts, erleben.
vor dem Spiel noch guter Dinge

Meine Güte – fast von der Seitenauslinie ins kurze Ecke… das war ja mehr eine Rückgabe und Kruse verletzt sich dabei auch noch. Früher in der Bundesliga war (fast) jeder Torwart der glorreichen Braunschweiger Eintracht Nationaltorhüter und nicht so ein Heringsbändiger wie derzeit. Auch nach dem zweiten großen Kaffee (würg) wurde Eintracht nicht gefährlicher, selbst Andre Schubert schüttelte nur noch verständnislos mit dem Kopf.
2018 – das Jahr, in dem wir Kontakt aufnahmen. Mit der Regionalliga! 2017 noch gefühlt unglücklich in der Relegation zur Bundesliga an den Schraubenlutschern gescheitert, und jetzt können sie froh sein, wenn deren zweite Mannschaft in die 3. Liga aufsteigt, damit Eintracht in der Regionalliga von denen nicht auch noch was auf die Nüsse kriegt. Das ist so bitter – aber ich hatte es vor Wochen schon geschrieben: Ich habe bereits Abschied genommen.
Hinterher schlenderten wir wieder alle zusammen durch dunkle Hamburg und landeten auf Santa Paula, dem Weihnachtsmarkt auf der Reeperbahn. Charles und ich spülten den Kaffee mit Pils weg und waren froh, als wir endlich diesen Markt überstanden hatten. Grelle Neonreklamen hüllten den ansonsten eher düster wirkenden Weihnachtsmarkt in ein diffuses und ungemütliches Lichtgewitter. Nein, das war nicht schön. Am Ende waren wir froh, dass wir in einer Dönerbude am Bahnhof noch etwas zu knabbern bekommen hatten (Hähnchendöner mit Currysoße, Fleisch kalt) und gegen 20.00 Uhr in den Zug steigen konnten.

Donnerstag, 13. Dezember 2018

Buddy Holly 2/7

Durch Auftritte bei lokalen Radiosendern entstanden weitere Impulse für die Karriere von Bob und Buddy. Der erste landesweite Radiosender KDAV in Lubbock veranstaltete jede Woche die „Sunday Party“, welche sich an die erfolgreiche „National Dance Barn“ Show aus Chicago anlehnte. Buddy und Bob gaben in der „Sunday Party“ häufig ihre Visitenkarte ab. Tatsächlich steigerten sie ihre Popularität so sehr, dass KDAV ihnen jeden Sonntag ein eigenes halbstündiges Programm zugestand.
Das Programm hieß „the Buddy and Bob Show“. Der lokale Radio DJ „Hipockets“ Duncan entdeckte das Potential der beiden Musiker und ermutigte sie, sich mit einem Bassisten - Larry Welborn - zu verstärken. Dank dieses Supports und der Verstärkung zum Trio konnten Buddy und Bob ihr Repertoire erweitern.
„Buddy und Bob“ hatten zwar immer noch im Wesentlichen Country in ihrem Repertoire und Bob war auch nach wie vor für den Leadgesang zuständig. Doch im Laufe des Jahres 1954 änderte sich das mit dem aufkommenden Rock `n` Roll Sound. Buddy sang in der Show immer häufiger Blues und Bop Songs. Buddy begann jetzt auch, selbst Songs zu schreiben. Bislang hatte dies Bob Montgomery allein übernommen.
Auf diese Weise, aber auch zusammen mit Bob Montgomery, entstanden schon früh die Songs „Love`s made a Fool of You“ und „Heartbeat“, obwohl Buddy Holly beide Songs erst einige Jahre später aufnehmen sollte.
Beide hatten sich zwischenzeitlich dem Rock `n` Roll verschrieben und wollten Platten aufnehmen. Sie kratzten ihr Geld zusammen, um mit Larry Welborn (Bass), Jerry Allison (Schlagzeug) und Sunny Curtis (Gitarre) Demobänder aufzunehmen, die sie an diverse Plattenfirmen schickten. Die Demos entstanden in den Jim Beck`s Studios in Dallas sowie den Nessman Studios in Wichita Falls, später auch in den NorVaJak Studios in Clovis, New Mexico.
Diese Demos schickten sie an verschiedene Plattenfirmen in der Hoffnung, einen Plattenvertrag zu ergattern. Bob Montgomery erklärte es später folgendermaßen: „Wir dachten, wenn Du einen Plattenvertrag bekommst, wirst Du automatisch reich. Wir hatten gesehen, wie die Country-Künstler hier in ihren Cadillacs mit Tennessee-Kennzeichen durchkamen, und dachten, alles was man tun musste, sei, eine Platte aufzunehmen und dann würde es automatisch laufen.“
Die Plattenbosse ließen sich jedoch von den Demos zunächst nicht überzeugen; sie erkannten noch nicht das kommerzielle Potential der neuen Musikrichtung, welche die Jugend begeisterte. Es war somit dem guten alten KDAV vorbehalten, Buddy Holly zum Durchbruch zu verhelfen. Denn neben der „Sunday Party“ sponsorte KDAV in Lubbock auch Live Country und frühe Rock `n` Roll Konzerte. Gern wählte der Sender das Duo „Buddy und Bob“, um die jeweiligen Shows zu eröffnen. Stars wie Ferlin Husky, Marty Robbins und sogar Elvis Presley... Buddy Holly lernte sie alle kennen und eine dieser Shows sollte die Initialzündung für Buddys Karriere werden.
Im Fair Park Auditorium in Montgomery spielten Bill Haley & the Comets am 14. Oktober 1955 in einer Show mit Jimmie Rodgers, Hank Snow und „Lubbock`s own Buddy, Bob und Larry“. Der Manager von Marty Robbins, Eddie Crandall, hatte diese Show organisiert und zeigte sich stark beeindruckt von Buddys Auftritt.
So blieb es Eddie Crandall vorbehalten, Buddy zu entdecken. Er schwatzte Pappy Dave Stone, dem Besitzer von KDAV, einige von Buddys und Bobs Demos ab, und schickte sie zu Paul Cohen, dem Repertoirechef bei Decca Records, der wiederum Buddy Holly im Januar 1956 ein Vertragsangebot unterbreitete - aber nur ihm und nicht Bob Montgomery. Crandall wollte Buddy als Solokünstler aufbauen.
Der Vertrag wurde fälschlicherweise auf den Namen „Holly“ ausgestellt; sie hatten das „e“ schlichtweg vergessen. Doch das war Buddy herzlich egal. Was ihn aber ärgerte, war das fehlende Angebot für seinen Freund Bob Montgomery. Buddy weigerte sich deshalb sogar zuerst, den Vertrag zu unterzeichnen. Doch Bob überredete ihn uneigennützig und drängte Buddy Holly zur Unterschrift; er begleitete Holly darüber hinaus sogar noch in die Decca Studios in Nashville, ohne dort wie sonst im Duo zu singen. Das ist wahre Freundschaft!
Gerade zu der Zeit hatte RCA Victor als geschickten Schachzug den Vertrag von Elvis Presley von Sun Records aufgekauft. Schon da stand Elvis an der Schwelle zum Millionseller, aber Sun Records war für das große Geschäft zu klein gewesen. Auch Decca Records wollte vom aufkommenden Boom des Rock `n` Roll profitieren und einen eigenen Star in Konkurrenz zu Elvis aufbauen. Deshalb hatten sie Buddy Holly einen Vertrag angeboten.
Decca wollte den Erfolg natürlich nicht dem Zufall überlassen. Sie gingen die Sache so an, wie sie bislang immer ihre Hits erzielt hatten. Holly musste deshalb seine Songs von Beginn an mit professionellen Studiomusikern einspielen, die selbstverständlich von Decca ausgesucht wurden. Schließlich sollte Buddy Holly ja auch professionelle Ergebnisse liefern.

Donnerstag, 6. Dezember 2018

Contramann: kurz gesehen im Dezember


https://www.heise.de/tp/features/Es-bewegt-sich-etwas-in-der-Linken-4200701.html
Dieser Beitrag dreht sich um die urbanen jungen Lifestylelinken; ihre Punkte sind: Wälder schützen (gut!), Luftballons gegen Rassismus schwenken (und sich dabei edel fühlen), sowie gegen weitere Mietsteigerungen für ihre Studentenbuden sein …
Der linke Markenkern - die soziale Frage - wird überhaupt gar nicht mehr erwähnt, auch im restlichen Artikel wird diese Existenzberechtigung einer linken Partei mit keiner Zeile angesprochen. Und ich befürchte, das ist kein Versehen - es ist tatsächlich etwas, was diesen urbanen jungen Linkshipstern nicht so sehr auf den Nägeln brennt.
(Soll man ihnen das übel nehmen? Naja - Marx hatte wohl recht: "das Sein bestimmt das Bewusstsein" = Probleme, die diese Leute nicht an sich selbst kennen und erlebt haben, sind ihnen auch nicht sooo wirklich wichtig, so ist es halt.)
Doch dann sollte man so ehrlich sein und Grün oder FDP huldigen. „Links“ ist etwas völlig anderes und hat etwas mit prekären Arbeitsverhältnissen und gleichen Rechten für alle zu tun.
Früher kämpften Linke für die Rechte der Arbeiter, heute nur noch fürs Gendern, Randgruppen und Migranten. Das ist an sich nicht verkehrt, doch beisst sich dies häufig mit dem Kernthema soziale Gerechtigkeit. Gerechtigkeit für die, die hier schon leben.
Aber in dem Artikel geht es ja um die #unteilbar Demonstration in Berlin.
In den heutigen Zeiten (angeblich) eine Viertelmillion auf die Strassen zu bringen, aber nicht wegen dem offensichtlichsten Misstand, der direkten Gefährdung unseres und aller Leibes und Lebens, dem ständigen Schüren von Konflikten und Provozieren anderer durch unsere Regierungen und durch NATO-Büttel, sondern um die von den Konzernen und der Finanzindustrie gewünschte Migration zu verteidigen, ist einfach ein erbärmliches Armutszeugnis, das mich langsam daran zweifeln lässt, ob ich eigentlich "links" sein will.
Nach dem Sturz des Ostblock ist "Linkssein" inzwischen völlig zu einem matschigen Gefühl verkommen, das Bessermenschen umtreibt, die irgendwie ihr aufgepfropftes schlechtes Gewissen zwanghaft beruhigen müssen - entweder, indem sie anderen mit höchster Gewissheit sagen wie die zu leben hätten, oder indem sie glauben, wenn sie gerne eine buntere Gesellschaft wünschten, müssten auch alle anderen dies wünschen - denn sonst sind das alles Nazis!

https://www.welt.de/politik/deutschland/article183023504/Aufruf-zum-Ruecktritt-Es-geht-ums-nackte-Ueberleben-der-SPD.html
Auffällig an diesem Artikel ist, dass die SPD-internen Kritiker (7 von 10) in der „Aufstehen!“ Bewegung involviert sind, die mutmaßlich von Sarah Wagenknecht indoktriniert werden. So würde Friedrich Merz das charakterisieren, deswegen gehört so ein Schund auch in die Springer Presse. Zumal Politiker wie Rudolf Dreßler oder Simone Lange, die Konkurrentin von Frau Nahles bei der Wahl zur Bundesvorsitzenden der Sozen, den Aufruf unterstützen.
Diese beiden sind wahrlich nicht zweite oder dritte Reihe der SPD, wie der sogenannte Politredakteur der Welt behauptet. Ansonsten stehen in der ersten Reihe ja die ganzen Agenda 2010 Täter, danach kommen ja schon diese beiden kritischen Stimmen in der Partei. Aber für die Springer Presse geht es lediglich darum, Sarah Wagenknecht zu diskreditieren.
Was mich hierbei so erbost ist die typisch deutsche Mentalität, die auch die Weimarer Republik zerstört hat. Auch damals haben die etablierten Regierungsparteien, allen voran die SPD, das Postenschachern und Anbiedern an das „Kapital“ derart übertrieben, dass die Wähler zu den Nazis gegangen sind. Dass die Kommunisten dem kleinen Mann noch die letzten Groschen nehmen würden, hat der kleine Mann damals angesichts der Gräuel eines Josef Stalin sofort geglaubt und die KPD nicht gewählt.
Zur heutigen Situation setze Putin als Stalin und Wagenknecht als Ernst Thälmann. Der deutsche Michel lernt es leider nicht. Und so wird auch der gutgemeinte Aufruf eines Marco Buelow ungehört verhallen und die AFD wird dann 1921 mit der CDU zusammen das Abendland retten. Ob dann die Flüchtlinge die neuen Juden sind?

https://www.berliner-zeitung.de/daenemark-jedem-sein-zuhause-3807370
Und so kann das Leben aussehen, wenn grundlegende Dinge eben nicht privatisiert werden.
Es geht um Wasser- und Energieversorgung, Müllentsorgung, Krankenhäuser oder eben um…
Altenheime!
Ich sag es mal so:
In Dänemark bräuchten wir nicht von einer „Alten WG“ lediglich träumen. In Holland sieht die Pflegesituation auch noch besser aus als in Deutschland; ja in ganz Europa sind die Pflegeschlüssel (Pfleger pro Menschen im Heim) besser als in Deutschland. Es fällt hier einer reiten Öffentlichkeit allein deshalb nicht auf, weil wir alle die Themen Krankheit und Tod verdrängen und ignorieren.
Da wird bei uns allen noch ein Heulen und Zähneklappern einsetzen.

https://www.heise.de/tp/features/Madrid-macht-s-vor-Autofahren-ist-heilbar-4237205.html

Recht so, Franz Alt! Nicht „freie Fahrt für freie Bürger“, sondern „Frische Luft für Alle“ muss das Motto der zukünftigen Städteplanung werden. Das kann allerdings nur dann klappen, wenn der öffentliche Personennahverkehr auch in öffentlicher Hand bleibt oder übergeht, wo er bereits privatisiert wurde.
Kürzere Taktungen und intelligente Systeme wie Kleinbusse oder auch automatische „Kabinenroller“ wären da Ansatzpunkte, um zukunftsfähige Projekte anzuschieben. Flankierend sollte man sich auch Maßnahmen für den ländlichen Raum wie auch für Zubringer der Pendler zur Arbeit in der Stadt überlegen. Kleinere und damit sparsamere Autos neben einer gesetzlich garantierten Verpflichtung zum Home Office wären da Ansatzpunkte.
Jedoch sehe ich bei aller Begeisterung auch die berechtigte Kritik vieler Leser des Heise-Forums, dass diese Verbesserung des städtischen Lebensraumes lediglich den finanziell besser gestellten Bürgern in den Metropolen zugutekommt, da die „normalen“ Arbeitnehmer und auch Rentner, Arbeitslose etc. zunehmend aus den Innenstädten dank unerschwinglicher Mieten herausgedrängt werden. Auch bei diesem Thema könnten gesetzliche Regelungen helfen.
Doch machen wir uns nichts vor: Der typische Deutsche findet dicke Karren geil und will dann auch eine haben. Und eine „Planwirtschaft“, welche eine Umsetzung neuer Verkehrskonzepte verwirklichen könnte, will der Deutsche auch nicht. Von daher hege ich wenig Hoffnung auf eine Umsetzung vernünftiger Verkehrskonzepte.

Montag, 3. Dezember 2018

Uncle Fester: grad gelesen Dezember 2018


Ian McDonald - Luna - New Moon (Band 1)
Der irische Schotte, der in England lebt, mit einer neuen Triologie. Tor.com wirbt mit dem Spruch „Luna ist für die Science-Fiction, was Game of Thrones für die Fantasy ist.“ Da ich Game of Thrones nicht kenne, kann ich diese Aussage nicht bestätigen. Wenn ich den Spruch aber ernst nehme, müsste ich Game of Thrones lesen. Unbedingt.
Statt einer Inhaltsangabe serviere ich die Infos zum Roman dieses Mal durch die Vorstellung der beteiligten Personen. Da hat McDonald ja ein richtiges Familienepos erschaffen!
Adriana Corta ist der/die „Hwaejang“ des Corta Clans auf dem Mond. Das bedeutet soviel wie Familienoberhaupt oder auch Pate eines der 5 beherrschenden Clans des Mondes, welcher formell einer Behörde verschiedener Erdmächte, der Lunar Development Corporation, untersteht. Doch dessen Präsident, der „Mondadler“ Jonathon Kayode, hat eigentlich keinen Einfluß auf die führenden 5 Häuser.
Bei der Kolonisierung des Mondes teilten sich zunächst 4 Clans die Macht auf dem Mond: Die Mackenzie Metals beherrschen die Metallherstellung, die afrikanischen Akan (Asamoah Clan) die Herstellung der Lebensmittel auf dem Mond, der chinesische Taiyang (Sun Clan) managt die Nachrichten- und Informatikindustrie, der russische Woronzov Clan hat das Transportmonopol.
Während der knapp 500 Seiten dieses ersten Bandes wird nach und nach der Aufstieg des brasilianischen Corta Clans dank des unermüdlichen Einsatzes von Adriana geschildert.
Sie arbeitete anfangs für Mackenzie Metals als Schürferin auf der Mondoberfläche und entdeckte dabei große Helium 3 Vorkommen, deren Ausbeutung sie sich exklusiv sichern konnte. Dank dieser Energie konnten auf der Erde die Energie- und damit Umweltprobleme beseitigt werden; Die Corta Familie erkämpfte sich dadurch ihren Platz als fünfter Clan des Mondes und zog sich eine dauerhafte Feindschaft zum Mackenzie Clan zu.
Zum Zeitpunkt der laufenden Handlung des Romans ist Adriana eine Greisin und stirbt am Ende eines langen Lebens einen natürlichen Tod.
Adriana ist eigentlich nur aufgrund der Rückblenden wichtig, weil dem Leser dadurch das komplizierte Beziehungsgeflecht der einzelnen Clans zueinander erklärt wird. Handelnde Personen des Romans sind aber Adrianas Kinder - weniger (noch) ihre Enkel. Da wäre zunächst der älteste Sohn Rafa, der Adrianas Nachfolge als Hwaejang antritt, was seinem Bruder Lucas nicht passt. Er wurde einst mit Rachel Mckenzie verheiratet, um den Konflikt zwischen den beiden Clans zu entschärfen.
Zunächst trennt sich Rachel von Rafa und geht mit dem gemeinsamen Sohn Robson nach Crucible (Mckenzie Territorium) zurück. Auf der Flucht vor den Mckenzies stirbt sie jedoch. Sie wollte Robson zurück nach Boa Vista bringen, weil Clanchef Robert Mckenzie Robson mit seinem Sohn Bryce, einem Knabenficker, verheiraten wollte.
Robson kann zum Glück gerettet werden und verbleibt zum Ärger der Mckenzies bei den Cortas. Als die Mckenzies am Ende des Romans den Corta Clan besiegen, läuft Rafa durch die zerstörte Kuppel der Cortas, um noch einige Leben zu retten, stirbt dabei jedoch an der fehlenden Atmosphäre.
Sein Bruder Lucas dagegen ist ein Machtmensch durch und durch. Zusammen mit Adrianas unehelichen Sohn Wagner bekämpft er die Mckenzies die ganze Zeit, weil er die Lage korrekt einschätzt. Die Mckenzies wollen den Corta Clan vernichten.
Der Musikliebhaber verliebt sich in den Bossa Nova Musiker Jorge Nardes, kann ihn aber nicht endgültig an sich binden. Lucas kann am Ende des Buches vor den McKenzies in den Weltraum zu den Woronzovs fliehen - genug Gold für diese Rettungsaktion hatte er beizeiten bereits gebunkert.
Ariel Corta ist das einzige Mädchen der Geschwister. Sie ist eine geachtete Rechtsanwältin und außerdem Mitglied im geheimen Club der weißen Hasen. Dieser erlesene Zirkel unter Führung des Mondadlers versucht, im Hintergrund die Fäden der Politik auf dem Mond zu ziehen, kann aber die Katastrophe am Ende nicht verhindern.
Da Adriana nicht zu Unrecht ein Attentat der McKenzies auf Ariel befürchtet, stellt sie ihr Marina Calzaghe als Bodyguard zur Seite. Die beiden Frauen kabbeln sich zunächst und werden dann gute Freundinnen. Das Attentat kann Marina dennoch nicht verhindern. Ariel sitzt schließlich im Rollstuhl, überlebt aber mit Marina den Angriff der McKenzies.
Wagner ist als unehelicher Sohn von Adriana auf den vielen Empfängen der Cortas nicht gern gesehen. Dennoch ist er dank seines scharfen Verstandes für Lucas ein unersetzlicher Helfer bei den Bemühungen, die McKenzies abzuwehren.
Dank eines genetischen Defektes ist Wagner darüber hinaus ein „Wolfsmensch“, der sich in seinem Rudel am wohlsten fühlt. Immer wenn die volle Erde des Nachts am Himmel steht, heulen die Wölfe diese an. Nur dank seines Rudels kann sich Wagner am Ende verstecken.
Fehlt nur noch Carlinhos Corta. Er ist der Held der Familie, der „Staubfresser“; der mit seinen Teams auf der Mondoberfläche nach Helium 3 schürft und neue Quellen erschließt. Relativ zu Beginn der Story nimmt er Marina zum ständigen Lauf in Joao de Deus, der Metropole der Cortas, mit. Eine schöne Idee von McDonald: Wie bei der nie ausgehenden olympischen Flamme dauert der Lauf durch die Stadt ewig. Ständig ist wenigstens ein Läufer unterwegs, der Lauf endet nie. Marina wird auch zur Geliebten von Carlinhos.
Schön geschildert ist die Episode, bei der Carlinhos mit Marina und anderen Teams den McKenzie Clan eine neue Helium 3 Quelle abjagen kann. Als Carlinhos zum Duell mit Hadley McKenzie antritt, um das Sorgerecht von Robson so klären zu lassen, und Hadley tötet, läutet er dadurch den letzten Akt ein.
Robert McKenzie gefällt dieses Gerichtsurteil nicht und nimmt dies zum Anlass, die Cortas zu vernichten. Er lässt die Kuppel von Boa Vista, der Residenz des Corta Clans, aufsprengen, so dass der Kuppelinhalt durch das Vakuum zerstört wird.
Carlinhos stirbt bei der Flucht vor den Söldner der McKenzies. durch Duncan McKenzie, der den Tod von Hadley rächen wollte. Schade um Carlinhos, aber McDonald baut halt gern noch etwas Tragik in die Story hinein.
Schön an diesem Roman sind dann noch Beginn und Ende. Dort geht es jeweils um Lucasinho Corta, dem 18jährigen Sohn von Lucas. Er ist ein Playboy und Tunichtgut, der in den Tag hineinlebt und während des Romans von zu Hause ausbüchst und andere Verwandte auf dem Mond besucht und diese anbettelt. Gerne bäckt er Kuchen, wenn er seinen Liebhabern eine Freude machen möchte.
Zu Beginn besteht er eine gefährliche wie traditionelle Mutprobe auf dem Mond - dem Mondlauf. Dabei versuchen die Kids der großen Clans auf der Mondoberfläche nackt und ohne Sauerstoff 20 Meter bis zur nächsten Luftschleuse zu überbrücken.
Am Ende des Buches steht Lucasinho im zerstörten Boa Vista und übernimmt zum ersten Mal in seinem Leben Verantwortung, indem er sich um seine sechsjährige Cousine Luna kümmert.
Da bleibt also eine Menge Spannung für die folgenden Bücher. McDonald hat hier ein wirklich packendes Epos geschaffen. Die Schilderung der Jagd auf den Helium Claim oder der ewige Lauf... McDonald beschreibt es plastisch, man sieht das Geschehen wie im TV vor den eigenen Augen. Das zu schaffen ist eine Kunst, die McDonald meisterlich beherrscht.