Dienstag, 25. Dezember 2018

Hartmudo: Mutter


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Aber warum hatte ich so ein merkwürdiges Gefühl nach dem Juwelier? Was störte mich an der Aktion im Juwelierladen, wieso hinterließ der Verkauf von Mutters Schmuck so einen schalen Beigeschmack? Ich hatte das Gefühl einer großen Leere in mir; selbst bei der Trauerfeier für unsere Mutter oder der Seebestattung ging es mir besser.
Die absolute Härte folgte aber am frühen Abend. Als ich aus meinem Mittagsschlaf aufwachte und meine WhatsApp Nachrichten las, fiel mir sofort eine Nachricht vom frühen Nachmittag ins Auge. Sunny hatte geschrieben.
„Bevor Ihr über die Beute herfallt und aufteilt, wollte ich nur mal sagen, dass ich eine Perlenkette als Andenken an unsere Mutter haben möchte. Bitte richte es unserer Schwester aus."
‚Richte es unserer Schwester aus' - das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Für Sunny war Berta's Name nicht mehr wert, ausgesprochen zu werden. Wie tief muss Hass sitzen, um sich so zu gebärden? Und überhaupt, bin ich jetzt ihr Dienstbote?
Die ganze Art von Sunny, das Anpöbeln und Unterstellen der Unterschlagung von Schmuck gegenüber Berta am Dienstag. Dieses genervt herrische ‚jetzt muss endlich mal Schluss sein“ beim Juwelier oder diese WhatsApp Nachricht. Dieses unreflektierte Unterstellen von Fehlverhalten und vor allem das permanente Anschreien. Solche Verhaltensweisen kenne ich eigentlich nur von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Oder sollte sich die räumliche Nähe zum Atomendlager Asse doch bereits bemerkbar machen? So eine bösartige Natter!
Meine Löwin, auch Bud, hatten vollkommen Recht. Vor allem meiner Löwin fiel es auf, das Berta und ich uns durch das laute Schreien von Sunny einschüchtern ließen. So bekommt Sunny dann vollkommen unnötig alles durch, nur weil Berta und ich um des lieben Friedens Willen einfach die Schnauze halten.
Jeder Schlag des Juweliers mit dem Hammer auf Mutters Schmuck, um die „wertlosen" Brillianten aus dem Schmuck zu brechen, tat meiner Löwin in der Seele weh. Noch heute fangen die Augen meiner Löwin an zu tränen, wenn sie von dieser unrühmlichen Szene im Juwelierladen spricht. Und ich stand da auch nur dumm im Laden rum, wollte einfach nur weg, machte aber nichts. Es sollte nur vorübergehen, der Rest war mir egal gewesen. Ich denke, dass es Berta haargenau so ging.
Den wesentlichen Punkt bei diesem müden Geschachere im Juwelierladen - wie auch später noch beim Verscherbeln der Wohnungseinrichtung - möchte ich jetzt erwähnen. Schlimm genug, das ich erst durch einige Anmerkungen meiner Löwin darüber genauer nachdachte, was da eigentlich passiert war.
Da wurde Mutters Leben einfach so weggeworfen, achtlos wie ein alter Lappen. Mutters Kinder waren so mit sich selbst beschäftigt, dass die Achtung vor Mutters Habseligkeiten schlichtweg auf der Strecke blieb. Für uns mag das vielleicht nur Plunder gewesen sein, aber all der Schmuck und die Käthe Kruse Puppen erfreuten ihr Herz.
Was hatten wir uns nicht alle über die Orientteppiche lustig gemacht. Und darüber, wie wichtig Mutter immer die Schonung dieser Staubfänger war. Sie und Walter hatten garantiert viel zu viel Geld für die Teppiche gezahlt, aber in ihren Augen waren sie wertvoll. Es mag zwar eine Art Puppenstube gewesen sein, aber die Wohnung war so eingerichtet, wie sie es wollte. Das war ihr Zuhause, hier fühlte sie sich geborgen.
Dann noch die eben erwähnten Käthe Kruse Puppen, der Schmuck und dieser antike Tisch mit den roten und dazugehörigen Stühlen. Für all diese Dinge hatte unsere Mutter viel Geld gezahlt, sie hatte sie ohne Ende geschont, bloss damit ihre Kinder nach ihrem Tod nichts besseres zu tun hatten, als all die Gegenstànde, die Mutter lieb und teuer waren, schnellstmöglich zu entsorgen.
Nachdem mir meine Löwin das vollkommen zu Recht unter die Nase geschmiert hatte, blutete auch mir das Herz. Was bleibt dann von einem Leben noch? Ich kann mich sehr gut daran erinnern, das Mutter ihre Schuhe vor der Wohnungstür auszog, damit die kostbaren Teppiche ja keinen Schaden nehmen würden. Bei den wenigen Malen, die meine Löwin oder ich bei ihr zu Besuch waren, zogen wir uns deshalb auch unsere Schuhe aus.
Mutter ging sogar bis zum Äußersten. Sie setzte sich nicht auf ihre Couch oder gar einen Sessel, nein. Wenn sie Fernsehen schaute, saß sie auf einem der roten Stühle an dem antiken Tisch. Ein Handtuch hatte sie sich darunter gelegt, um den Sitzbezug zu schonen. Und sie fläzte sich nicht einfach so dahin, sondern saß ganz starr auf dem Stuhl, die Arme verschränkt. Den Tisch berührte sie dabei nicht, sie war sichtlich bemüht, ihre Sachen zu schonen.
Als ich das seinerzeit bei einem Besuch mal mitbekam, ergriff mich ein tiefes Gefühl der Ehrfurcht. Ja, so war die Generation unserer Eltern. In den 20ern geboren, lebten sie nicht wie wir heutzutage in einer Wegwerfgesellschaft. Unsere Eltern schonten ihre Sachen, weil sie sich diese sauer verdient hatten. Sozusagen vom Munde abgespart, das kennt die heutige Jugend gar nicht mehr.
Unser Wohnzimmer in der Kindheit wurde quasi nie benutzt, obwohl dort ab Mitte der 70er ein großer Fernseher stand. Wir saßen immer im kleinen Zimmer im 1. Stock unseres Reihenhauses in Melverode. In diesem kleinen, aber vollgestellten Zimmer spielte sich das gesamte Familienleben ab. Oder aber in der Küche, in der mein Vater jeden Tag mindestens eine Stunde lang seinen Lottotip austüftelte.
Meine Eltern hatten sich nie etwas gegönnt. Als ich klein war, wurde alles Geld straff zusammengehalten. Erst als meine Mutter selber arbeiten ging (ab 1969), leistete sie sich ihre Reisen. Mein Vater blieb sparsam wie eh und je.
Nach Vaters Tod und dem Verkauf des Reihenhauses richtete Mutter sich ihre Wohnung so ein, wie sie es mochte. Wohl zum ersten Mal in ihrem Leben, also mit Anfang 70, fühlte sie sich frei. Sie hing an ihrer Wohnung, alles war ordentlich eingerichtet. Voller Stolz präsentierte sie all die Jahre ihren Schmuck, wenn Walter und sie mit meiner Löwin und mir unterwegs waren.
Die Teppiche, ihre Käthe Kruse Puppen... Und der Juwelier haute achtlos mit dem Hammer drauf. Da ging es hin, das Leben meiner Mutter. All ihre Anstrengungen, all die Mühen. Weg, vergessen. Sunny war da, zumindest an dem Vormittag, schmerzfrei. Aber Berta und ich waren beim Juwelier auch nicht besser.
Nach knapp eineinhalb Monaten waren wir Geschwister schon so abgestumpft, das uns das alles nichts bedeutete. Es konnte uns nicht schnell genug gehen, wir waren vollkommen mit uns selbst beschäftigt. Mutter war uns fremd geworden, auch in ihrem Leben nach Vaters Tod. Das muss ich jetzt so krass formulieren. Sicher hatten meine Löwin und ich uns um sie bis zum Zerwürfnis wegen Walters Testament noch am meisten gekümmert. Aber was in Mutter selbst vorging, habe ich zumindest nie reflektiert.

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