Montag, 24. Dezember 2018

Hartmudo: Mutter


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Ich war beim Holen des Kaffees froh, wenigstens für ein paar Minuten der beklemmenden Atmosphäre im Laden des Juweliers entronnen zu sein. Als ich mit dem Kaffee für Sunny und mich zurückkehrte, war die Stimmung immer noch unverändert schlecht.
Und dann war da noch die Szene mit der Tasche. Die nicht aufzufindende Abendhandtasche, mit Strass besetzt, die Berta angeblich mitgenommen haben sollte. Ich stand direkt vor dem Haufen aus Boxen, Taschen etc. mit dem ganzen Schmuck. Das gesamte Package lag oben auf der Auslage, hinter diesen Glasvitrinen stand der Juwelier und begutachtete den Schmuck mit seiner Lupe, Stück für Stück.
„Da ist ja die Tasche!" Sunny sagte dies, direkt neben mir vor der Vitrine stehend, relativ leise vor sich hin, an niemanden direkt gerichtet. Erstaunt drehte ich mich zu Sunny um. Sollte es wahr sein, das der Grund für unser wohl endgültiges Zerwürfnis direkt vor unserer Nase lag? Wie doof ist das denn!
„Willst Du Dir die Sparbücher jetzt nicht noch mal ansehen, Sunny? Das wolltest Du doch," sagte ich, nachdem ich in dieser Tasche sogar noch die von Reiner und Sunny vermissten Sparbücher entdeckt hatte.
„Ach nee, das ist jetzt sowieso zu spät," meinte sie nur leise. Und schon war die Angelegenheit für sie erledigt. Einfach so, die dusselige Kuh hätte sich einfach nur mal entschuldigen können. So etwas passiert halt mal in der ganzen Aufregung. Und selbst, wenn sie sich nicht entschuldigt hätte, aber ihren Irrtümern vom Dienstag mit der falschen Beschuldigung von Berta einsehen könnte. Aber nein, es interessierte sie offensichtlich gar nicht, wie sich das Verhältnis zu ihren Geschwistern entwickelte. Da war ich richtiggehend baff.
Berta hatte von dieser Unterhaltung übrigens nichts mitbekommen. Wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird, stand sie etwas abseits hinter Sunny und mir und hing ihren dunklen Gedanken nach. Berta war in einer Schockstarre gefangen, sie war noch nicht einmal ansprechbar. Was für eine Qual diese Farce für sie gewesen sein muss, das wird mir erst jetzt, Monate später, so richtig bewusst.
Besonders nervig empfand ich den Juwelier in den Momenten, wo er den Mangel einer Kette oder das unechte Material eines Rings ausschließlich mir ausführlich erklärte. Weder Sunny noch Berta - okay, letztere war sowieso nicht ansprechbar - sprach er dann direkt an, immer nur mich. Einmal drückte er mir sogar seine Augenlupe in die Hand, damit ich mich persönlich vom Makel des Schmuckstücks überzeugen konnte.
Ich klemmte mir das Teil in mein linkes Auge (ist ja wie bei James Bond) und schaute mir die Halskette lustlos an. Dachte er, ich wäre so misstrauisch oder was? Das ich kompetent ausgesehen hatte, kann man nun wirklich nicht sagen. Auch seine Frau gefiel mir in keinster Weise. Die ganze Zeit schlich sie im Laden herum, sprach nur mit Sunny oder Reiner und drückte allein durch ihre Körpersprache eine spürbare Abneigung Berta und mir gegenüber aus.
Meine Löwin und Bud habe ich eben bewusst nicht erwähnt, weil beide zwar anwesend waren, um Berta und mich zu unterstützen, aber im Gegensatz zu Reiner hatten sie sich aus allen Diskussionen herausgehalten.
Irgendwann war der Juwelier endlich fertig, ich konnte sein endloses Geseiere nicht mehr ertragen. Er hatte seine Häufchen mit Silber und Gold auf dem Tresen der gläsernen Vitrinen liegen, jetzt ging es ans Wiegen und damit zur Bestimmung seines Ankaufspreises. Der Juwelier ließ uns die Wahl bei den Schmuckstücken, die noch mit Edelsteinen versehen waren. Entweder er wiegt den Schmuck so, wie er ist, und schätzt dann den Edelmetallanteil ohne die Edelsteine, oder aber er bricht die Edelsteine raus und wiegt lediglich das Metall. Das er sich beim Schätzen nicht zu seinen Ungunsten den Metallanteil bestimmen würde, erwähnte er vorsichtshalber gleich.
„Ja, dann brech sie raus." sagte Sunny mit ruhiger Stimme, zumal der Juwelier die ganze Zeit nicht müde geworden war, uns die Wertlosigkeit bzw. Unverkäuflichkeit der eingefassten Edelsteine zu erklären.
Jetzt startete meine Löwin doch noch einmal den Versuch, einen sinnvollen Vorschlag anzubringen. „Dann lasst den Schmuck mit den Edelsteinen doch einfach nur schätzen und dann sein Angebot hören. Wir können es immer noch woanders versuchen." warf meine Löwin so oder so ähnlich ein. Das wäre ja auch das Vernünftigste gewesen, normalerweise.
Aber in meiner Familie ist nichts normal. „Nein, jetzt muss endlich mal Schluss sein. Das reicht jetzt hin. Ich will, das es endlich vorbei ist. Schlag die Steine raus!" Sunny war binnen Sekundenfrist außer Rand und Band, ihre schrille Stimme hatte wundersamer Weise das Glas der Vitrinen nicht zum Zerspringen gebracht.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, das ich dem Herausschlagen der Edelsteine zugestimmt habe. Ich war durch. Der Streit vom Dienstag und die Hackfressen von Sunny und Reiner hatten mich zermürbt, auch ich wollte nur noch ein schnelles Ende sehen, damit die leidige Angelegenheit vorbei ist. Berta sagte gar keinen Ton, sie wirkte schon die gesamte Zeit beim Juwelier wie paralysiert, eingeschüchtert von Sunny's großer Klappe.
Bei mir war das allerdings auch nicht anders, und so stand ich wie Berta auch regungslos mitten im Laden, während der Juwelier die Steine herausbrach oder auch kloppte. Erst versuchte er es vorsichtig, um die Steine zu schonen. Doch als er bei einer Halskette mit Diamanten nicht weiterkam, schrie Sunny unvermittelt: „Hau sie doch raus, ist doch egal jetzt!"
Ich wollte nur noch nach Hause, und zwar schnell. Leider war meine Anwesenheit erforderlich, so dass es noch einige, sehr quälende Momente zu überstehen galt. Die letzten Schmuckstücke zerkloppte der Juwelier im Hintergrund, aber irgendwann war er fertig und ging dann nach hinten in sein Büro, um das Geld zu holen.
Über 15.000 Euro hatte er errechnet und schrieb uns eine handschriftliche Quittung, die seine Frau auch sofort kopierte, auf das er sie quittierte. Wundersamer Weise hatte er auch genau so viel Bargeld in seinem Büro. Da stand er also mit dem großen Bündel 500er hinter seinem großen Tresen gegenüber der Eingangstür und fragte uns, ob er das weiter hinten verteilen sollte.
„Ach, mach das doch gleich hier. Teil das auf in drei Haufen und gut ist." Sunny war jetzt sehr resolut in ihren Ansagen, während Berta und ich gar nichts mehr sagten. Eingeschüchtert, ja, das waren wir zweifelsfrei. Wir hatten uns von Sunny wirklich am Nasenring durch die Manege führen lassen, anders kann ich es nicht beschreiben.
‚Wo bin ich hier', fragte ich mich fassungslos. Ich fühlte mich wie in einem billigen Mafiafilm. Ich schaute aus dem Schaufenster auf die stark befahrene Straße; nicht wenige Fußgänger gingen am Schaufenster vorbei, während der Juwelier die 500 € Scheine auf drei Stapel verteilte. Immer zwei Scheine pro Stapel.
„Eintausend, eintausend, eintausend. Zweitausend, zweitausend, zweitausend..." und so weiter zählte und verteilte der Juwelier den Wert des Geschmeides auf dem Tresen seines Ladens. Draußen schien derweil die Sonne so schön, doch ich konnte mich nicht wirklich daran erfreuen.
Als er dann mit dieser peinlichen Nummer endlich fertig war, griff Sunny sofort und zügig nach einem Stapel. „Mal langsam, nicht so schnell. Bleib doch mal ruhig“, entfuhr es meiner Löwin spontan, die ob der Gierigkeit von Sunny sichtlich angewidert war. Auch Berta und ich sammelten je einen Haufen ein.
Ach ja. Nachdem der Juwelier seine Scheine verteilt hatte, blieb noch ein Hunderter übrig. Den wechselte er nochmal in Zehner, damit sich auch ja niemand benachteiligt fühlen musste. Den dann noch übrig gebliebenen Zehner bekam ich dann. „Du hast ja schließlich auch den Kaffee bezahlt", sagte Sunny großzügig. Peinlich, aber ich nahm das Geld trotzdem. Wollte es wohl Berta noch geben, die wollte aber auch nicht.
Dann war der Spuk vorbei, Berta und Bud verließen den Laden grußlos, während ich mir noch ein „Tschüss" rausquälte. Am Freitag nächster Woche würden wir uns zur Vorbereitung des Wohnungsflohmarktes in Mutters Wohnung wiedersehen müssen. Wie in Trance gingen wir auseinander, zuhause mussten sich meine Löwin und ich erst einmal hinlegen.

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