Montag, 28. Dezember 2015

Contramann: Wirtschaftswunder

Da habe ich die Weihnachtstage entspannt im Kreis von Familie und Freundeskreis gut verbracht, so dass ich dachte, mal kurz bei Spiegel Online vorbeizuschauen. Und schon stolpere ich da über einen Kommentar, der mich gleich wieder aufregte.
Ja, ich weiß, ich sollte es eigentlich besser wissen. Augsteins Sohn schreibt dort wohl auch nur noch, um die Folklore des Blattes als „Sturmgeschütz der Demokratie“ aufrecht zu erhalten. Derart üble neoliberale Propaganda wie diesen Kommentar eines Henrik Müller, seines Zeichens Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der TU Dortmund, lesen zu müssen, schmerzt schon sehr. Der promovierte Volkswirt sondert anscheinend öfters seinen Sermon auf SPON ab, Professor (Un)sinn hat wohl einen würdigen Nachfolger gefunden.
„Wirtschaftspolitischer Journalismus“ lässt sich hier wohl mit Mietschreiber der neoliberalen Agitationspresse übersetzen. Und wenn ein Volkswirt derart betriebswirtschaftlich argumentiert, dann wird es obskur.
Hier erst einmal der Link:
http://www.spiegel.de/wirtschaft/zuwanderung-fluechtlinge-koennen-fuer-wirtschaftswunder-sorgen-a-1069395.html
Die These von Müller: Die gute Entwicklung der deutschen Wirtschaft der letzten Jahre wurde durch Zuwanderung erst möglich. Die Massen an Flüchtlingen sollen nun dafür sorgen, das sich das zweite deutsche Wirtschaftswunder fortsetzt. Diese schwachsinnige Argumentation habe ich dieses Jahr selbst in meinem näheren Umfeld schon gehört. Diesen falschen Vergleich mit dem Boom der frühen Bundesrepublik und der Beschäftigung von Gastarbeitern ab den 60er Jahren möchte ich argumentativ entkräften.
Der wirtschaftliche Aufschwung in den 50er Jahren gehört zu den großen Mythen dieser Republik. Nach dem gottlob verlorenen Krieg war die Infrastruktur weitgehend zerstört. Arbeitskräfte waren Mangelware und eine Arbeit schnell gefunden. Nach Qualifikationen wurde seinerzeit nicht gefragt, überwiegend wurden die Arbeitskräfte eh in Anlernberufen gebraucht. Und jede Firma brauchte einen, der die Halle oder den Hof fegt. Da kriegten selbst Sonderschüler noch einen Job.
Und da immer noch Arbeitskräfte fehlten, wurden dann die Gastarbeiter ins Land geholt. In den 60ern waren sich viele Deutsche schon zu fein für manche Tätigkeiten. Klassiker der 70er Jahre ist hier die Müllabfuhr, in der überwiegend Türken arbeiteten. Auf alle Fälle kamen die Gastarbeiter, weil sie in Deutschland einen Arbeitsplatz hatten und nicht, weil sie aus wirtschaftlicher wie auch politischer Not heraus nach Deutschland kamen.
Und gerade hier liegt der Hase im Pfeffer. Wir haben 2015 keinen Arbeitskräftemangel in Deutschland, ganz im Gegenteil. 7 Millionen arbeitsfähige Menschen ohne Arbeit, dazu noch die „Aufstocker“ der Arbeitsverwaltung, sprechen hier eine deutliche Sprache. Was faselt dieser Müller ergo einen derartigen Schwachsinn von Integration der Flüchtlinge, die die Wirtschaft belebt?
Die paar Stellen in der Flüchtlingsbetreuung, die übrigens – Achtung, Herr Volkswirt! - von der Allgemeinheit aus Steuergeldern finanziert werden müssen, werden sicher keinen Boom auslösen oder auch die Wirtschaftskraft steigern, im Gegenteil. Kurzfristig sind das alles Kosten, solange die Flüchtlinge nicht selbst durch Arbeit oder auch in der Selbständigkeit Werte schaffen können. Wir reden da über Jahre, da der Bildungsgrad der Flüchtlinge in der Regel eher schlecht ist und die deutsche Wirtschaft eher hochqualifizierte Arbeitskräfte braucht. Die Zeiten der Hausmeister in den Firmen ist halt vorbei, und den 5. Dönerbräter in meiner Straße braucht auch keiner.
Dann musste ich in diesem unsäglichen Kommentar noch den Schwachsinn über den vermuteten demographischen Faktor lesen. 10 Millionen Arbeitskräfte würden bis 2050 fehlen, weil die Deutschen keine Kinder mehr kriegen. Müller ist offensichtlich in der Arbeitswelt der 50er Jahre stecken geblieben, denn die immer weiter voran schreitende Automatisierung wird nach Schätzungen unabhängiger Institute (nein, suche ich jetzt nicht raus. Googelt das selber!) 15 Millionen Arbeitsplätze kosten.
So ist denn auch Müllers Annahme, das Deutschland „viel mehr Immigranten als in den vergangenen Jahrzehnten“ brauchen würde, durch nichts begründet. Der Hajopei stellt dies einfach so als gottgegeben in den Raum. Wie gesagt, wir haben in den vergangenen Jahrzehnten in dieser Gesellschaft Millionen Arbeitskräfte aussortiert, die zumeist hochqualifiziert sind und mit wenig Aufwand das neue Wirtschaftswunder befeuern könnten. Spart dazu noch Sozialausgaben, die dann als Konjunkturspritzen zur Verfügung stünden.
Eine moderate, sprich gezielte Einwanderungspolitik, könnte wohl noch zusätzlich frisches Blut in eine alternde Gesellschaft spülen, aber doch nicht derart planlos wie derzeit.
Bei mir drängt sich der Eindruck auf, das hier lediglich die Planlosigkeit unserer Politiker kaschiert werden soll. Es sind Berichte wie dieser, die mich mehr und mehr verzweifeln lassen. Sich für die Flüchtlinge einzusetzen ist ja o.k., aber dies dann noch mit derart aberwitzigen Behauptungen von einer Befeuerung des Arbeitsmarktes oder gar einem Wirtschaftswunder unterfüttern zu wollen, halte ich für abenteuerlich.
Traurig finde ich daran, das sich Menschen, die ansonsten eher politisch links beheimatet sind und den Medien dementsprechend kritisch gegenüber eingestellt sind, sei es bei den Themen Kriegseinsatz oder TTIP, Ukraine etc., hiervon beeindrucken lassen und diese hohlen Phrasen übernehmen, um bloß nicht als fremdenfeindlich zu gelten. Leute, die auch noch links sind und die fehlerhafte Argumentation eines Professor Müller durchschauen, sind da eher rar gesät.
Insofern sehe ich leider weiter schwarz für unsere Demokratie, weil viel zu wenig Leute mitdenken.

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