Montag, 23. Dezember 2019

Hartmudo: Mutter

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Nach dem Spiel in Karlsruhe verbrachte ich mit meiner Löwin einen ruhigen 4. Advent. Vorerst jedenfalls, denn am frühen Nachmittag rief Berta an und ließ aus meinem Ballon der guten Laune die Luft ab.
Sonntag, der 18. Dezember. Panik machte sich breit, mir stand der Schweiß auf der Stirn. Berta war mit Bud am Mittag in Mutters Wohnung gewesen, um das Ergebnis der Wohnungsräumung durch die Firma zu begutachten. Das heißt... Sie wären in der Wohnung gewesen, wenn sie reingekommen wären.
Mit der Firma aus Walle, die die Räumung ausgeführt hatte, war abgesprochen worden, dass die Packer den Hausschlüssel nach der Räumung in den Briefkasten werfen sollten. Doch als Berta den Briefkasten geöffnet hatte, musste sie feststellen, dass dort kein Schlüssel drin lag. Wir reden hier über den einzigen Schlüssel, den Berta besessen hatte.
Dunkel kann ich mich daran erinnern, dass bei Berta und mir die Panik den Nacken hochgekrochen kam, weil Berta diesen Schlüssel für die Wohnung noch an den Makler weitergeben musste, damit dieser mit den hoffentlich zahlreichen Interessenten die Wohnung von Mutter begutachten konnte.
Berta war völlig aufgelöst und konsterniert, auch mir war nicht wohl zumute. Berta hatte natürlich sofort den Mann von der Firma aus Walle angerufen und ihn gefragt, warum er den Schlüssel nicht wie vereinbart in den Briefkasten geworfen hatte. Doch dieser schwor Stein und Bein, dass er nach der Räumung von Mutters Wohnung den Schlüssel in ihren Briefkasten geworfen hatte.
Meine Sestra kam daraufhin zu dem Schluss, dass Sunny sich den Schlüssel gekrallt haben musste. Denn warum sollte die Firma den Schlüssel behalten wollen, das ergibt schließlich keinen Sinn. Wahrscheinlich hatte Sunny einen Zweitschlüssel, vielleicht von den Nachbarn erhalten. Nur um Berta zu ärgern, hatte sie nach Bertas Meinung den Schlüssel geklaut.
Mir gingen diese Gedankengänge zu weit. So verschlagen wie hinterlistig schätzte ich Sunny nicht ein. Wahrscheinlicher erschien es mir, das Berta Sunny in dieser Angelegenheit einfach für alles verantwortlich machte, was da schiefgelaufen war. Ich sagte ihr das auch, aber Berta war schwer zu beruhigen.
Andererseits... warum sollten die Packer den Schlüssel für sich behalten wollen? Waren sie nicht fertig geworden und wollten dies verschleiern? Das ergab irgendwie gar keinen Sinn. Oder das sie es einfach nur vergessen hatten und jetzt nicht zugeben wollten? Vielleicht hatten sie die Wohnung nicht vollständig ausgeräumt und wollten das jetzt verschleiern. Oder ein Nachbar hatte sich den Schlüssel gekrallt, weil er noch mal in der Wohnung stöbern wollte...
Ehe ich jetzt noch Berta der Lüge verdächtigte, entschloss ich mich in dieser Situation, ihr doch erst einmal Recht zu geben.
Denn alles andere ist Blödsinn, da war eine schnelle Wegnahme des Schlüssels durch Sunny schon wahrscheinlicher. Und das nicht nur aus Schikane, sondern weil sie Berta und mich zwingen wollte, sie anzurufen. Denn Sunny hatte ja selbst einen Wohnungsschlüssel. Um die Räumung zu kontrollieren, brauchte sie selbst keinen.
Doch wie dem auch sei... Berta wie ich konnten es nicht verknusen, bei Sunny zu Kreuze kriechen zu müssen. So nach dem Motto: „Da könnt ihr mal sehen, was für eine Scheißfirma Ihr da beauftragt habt. Aber Ihr musstet ja unbedingt ne andere Firma nehmen, Ihr ward ja so schlau!"
Berta holte mich nach dem Telefonat ab, auf das wir zusammen noch einmal in Mutters Wohnung nachgucken konnten. Vielleicht hätte ja irgendein Nachbar doch noch einen Wohnungsschlüssel gehabt. Meine Löwin und ich hatten offiziell auch nie einen Schlüssel gehabt, deswegen war diese Angelegenheit für mich persönlich sehr ärgerlich. Der aufmerksame Leser merkt schon... Das Stichwort hier ist offiziell!
Mir selbst fiel noch ein, das wir in einer Zeit, als Mutter mal wieder im Krankenhaus lag, irgendwann wohl einmal heimlich einen Zweitschlüssel gemacht hatten. Ich wusste zwar nicht mehr, wo dieser war, verortete diesen dann aber in der Schublade unseres Schuhschrankes zuhause. Diesen Schlüssel, von dessen Existenz Berta nichts wusste, nahm ich natürlich mit, als Berta mich abholte.
Auf der Fahrt nach Melverode spekulierten wir weiterhin über den Verbleib des Schlüssels; und auch jetzt erzählte ich Berta nichts von dem „inoffiziellen" Wohnungsschlüssel. In einer Mischung aus Ärger, Angst und Wut standen wir dann vor dem Hauseingang des Blocks von Mutters Wohnung.
Und tatsächlich... Da war kein Schlüssel zu sehen. Beim Schauen in den Briefkasten war nichts vom Türöffner zu erkennen. Ich kontrollierte sogar den Fußboden innen (ein Nachbar drückte auf unser Klingeln hin den Türsummer, um uns herein zu lassen) und außen, selbst unter der kleinen Hecke neben dem Türeingang versuchte ich mein Glück.
All das war erfolglos, so dass ich mich entschloss, Farbe zu bekennen und Berta von dem Zweitschlüssel und dem Grund, weshalb ich ihn angefertigt hatte, zu erzählen. Denn es machte während Mutters Krankenhausaufenthalt durchaus Sinn, einen Schlüssel ohne Mutters Zustimmung anfertigen zu lassen. Seinerzeit ging es ihr schon nicht mehr so gut, doch sie hatte keinen von uns Kindern einen Schlüssel geben wollen.
Die Aktion ging also auf meine Kappe, da wollte ich meine Schwestern nicht auch noch mit hinein ziehen. Ich hatte Nutters Hausschlüssel wohl ein einziges Mal benutzt, um Kleidung für ihren Aufenthalt im Krankenhaus aus ihrer Wohnung zu holen. Ich nutzte die Gelegenheit, um bei Khan diesen Zweitschlüssel anfertigen zu lassen. Natürlich rückte ich erst jetzt damit heraus, weil ich mir nicht irgendwelche Vorwürfe seitens meiner Schwestern anhören wollte, dass ich in der Wohnung gewesen wäre, um Wertgegenstände heraus zu nehmen.
Ihr erinnert Euch - genau das war der Vorwurf von Sunny an Berta gewesen. Beim Hinaufgehen in Mutters Wohnung erzählte ich dies meiner Sestra. Und sie konnte meiner Argumentation folgen, verstand auch meine Beweggründe. Da war ich dann beruhigt, es ging mir gleich viel besser.
Und oben an der Wohnungstür wieder schlechter. Denn mein Schlüssel passte nicht in das Schloss. Offenbar hatte ich doch nie einen Schlüssel besessen. Es kann sogar gut sein, dass ich gar keinen Nachschlüssel gemacht hatte, denn außer dem, den ich in dieser Sekunde dabei hatte, war kein Schlüssel bei uns im Haus vorrätig. Oder hatte ich ihn anderweitig abgegeben? Ich war mit einem Schlag noch mehr verunsichert. Die ganze Aufregung in diesem familiären Streit der letzten Wochen hatte mich total kirre gemacht. Offenbar konnte ich Phantasie und Realität zeitweise nicht mehr unterscheiden.
Gerade als mir durch den Kopf ging, dass ich Berta am besten gar nichts von einem Zweitschlüssel erzählt hätte, kam sie mit einem überraschenden Geständnis aus dem Knick. Wir standen noch unverrichteter Dinge vor Mutters Wohnungstür, als Berta ihrerseits einen kleinen Schlüsselbund hervorzauberte.
Gundula hatte diesen Schlüssel wohl beim Wohnungsflohmarkt bekommen. Vielleicht auch irgendwann anders, das weiß ich heute nicht mehr so genau. Und zu unserer großen Freude passte dieser Schlüssel doch tatsächlich ins Schloss. Endlich konnten Berta und ich uns davon überzeugen, dass die Firma die Wohnung wie versprochen geräumt hatte. Jetzt endlich konnte der Makler tätig werden.
Wieso Berta nicht vorher mit dem Schlüssel aus dem Knick kam, überlegte ich in dem Moment nicht. Mir war einfach nur ein riesiger Stein von den Schultern gefallen. Ich denke, Berta erging es ähnlich. Denn ich hatte ja ebenfalls nichts vom zugegebenermaßen „vermeintlichen" Schlüssel geflüstert. Da muss ich mit Vorwürfen mal ganz ruhig sein.
Im Endeffekt ist es mit der „Verheimlichung" der Schlüssel auch gut gelaufen. Sowohl Berta als auch ich hatten wegen des ganzen Ärgers mit Sunny Angst, dass der jeweils andere das falsch auffassen könnte. Denn eigentlich wären diese Nachschlüssel ja nicht nötig gewesen, wenn der richtige Schlüssel im Briefkasten gelandet wäre.
So aber mussten wir letztendlich Farbe bekennen. Gut ist, dass wir uns hinterher nicht mit gegenseitigem Misstrauen überschüttet hatten. Das hätte lediglich Sunny in die Karten gespielt.
Endlich war der Stress vorbei, jetzt, da die Wohnung auch gut ausgeräumt war. Der Makler würde den Rest erledigen. Da kann doch kein Stress mehr aufkommen... dachte ich so in meinem jugendlichen Leichtsinn.

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