Mittwoch, 25. Dezember 2019

H. Lecter – Garagenhof 2/2


Die Teppichstange zwischen den ersten beiden Blöcken hatte zum Schlesiendamm hin noch einen Drahtzaun zu bieten. An diesem Durchgang konnten wir deshalb zwar nicht vor Krüger fliehen, aber dafür wurden wir auch nicht durch lästigen Fußgängerverkehr gestört.
Die anderen Durchgänge waren ja zum Schlesiendamm hin und damit dem kürzesten Weg zum Heidberg offen. Und egal ob jemand seinen Hund Gassi führte oder zum Einkaufen oder zur Schule in den Heidberg ging – der Schlesiendamm mit seinem Trampelpfad über die brach liegende Fläche war der bevorzugte Weg dorthin.
In unserem kleinen und abgeschlossenen Bereich bescherte uns die Teppichstange 2 gleich große Spielfelder für eine Art Volleyball. So weit ich mich jedoch erinnere, haben wir den Ball nicht geprellt, sondern gefangen und über die Stange zurückgeworfen. Bei den kleinen Plastikbällen, mit denen wir da hantierten, ging das auch gar nicht anders. Zumeist war bei den Bällen eh schon die Luft raus. Außerdem hatten sie in der Regel einen Durchmesser von höchstens 10 bis 15 Zentimetern. Da kannst Du das Prellen natürlich vergessen.
Gegen dieses Ballspiel hatte Krüger nichts einzuwenden, so dass wir dies häufig spielten, wenn unser Fußball mal wieder weg war. Ob eins gegen eins oder zwei gegen zwei, dieses Wurfspiel machte richtig Spaß. Selbstredend waren die rot geziegelten Garagenwände als Bande sehr hilfreich, um den einen oder anderen Punkt erzielen zu können.
Manches Mal herrschte auf dem Spielfeld aber auch ein tierisches Gedränge, weil wir auch häufiger 3 gegen 4 spielten. Das war dann ein richtiges Gangbang – nein, Halt! Das ist etwas anderes, glaube ich. Wir waren ja noch nicht voll entwickelt gewesen.
Gern aber beschränkten wir uns auf diese relativ schmale Fläche von nicht mal zwanzig Quadratmetern, um unsere überschüssige vorpubertäre Energie abbauen zu können. Da waren Kinder dabei, an deren Namen ich mich schon drei oder vier Jahre später nicht mehr erinnern konnte. Da schwärmte ich bereits von Karin Polotzek, aber das ist eine andere Geschichte. Die wohnte auch am anderen Ende von Melverode.
In vielen heißen wie engen Spielen konnten wir unsere Wurftechnik ständig verbessern, was aber Fehlwürfe nicht grundsätzlich ausschließen konnte. Ärgerlich waren hierbei nicht die Würfe, die den Weg über die Teppichstange einfach nicht finden wollten oder derart weit geflogen waren, dass sie hinter der imaginären Linie im Aus landeten.
Als Problem erwiesen sich nämlich die Würfe über die Bande. Aufgrund unserer geringen Körpergröße hatten einige Kinder eh schon Schwierigkeiten, den Ball – oder besser gesagt die „Leiche“ des Balles ohne Luft – über die Stange zu werfen. Und aus Ein-Meter-Zwanzig Körpergröße sind die Zielpunkte für die Bandenwürfe eben enorm weit weg. Da ging ein Ball schon einmal daneben und verfehlte die Garagenwand.
Auf gut Deutsch: Der Ball landete auf dem Dach. Und nicht Krüger war der Übeltäter, sondern einer von uns. Da war also wie immer eine Räuberleiter angezeigt. Und bei einer dieser Rettungsaktionen ereignete sich das Unglück. Sonst klappte es immer, aber dieses eine Mal…
Wie und warum die Pille auf dem Dach landete, weiß ich nicht mehr. Aber wir würden ihn uns wiederholen, das stand außer Frage. Wahrscheinlich stand ich bei der Räuberleiter unten und hob UMD mit meinen zusammengefalteten Händen an der Wand hoch, so dass er die Teppichstange fassen konnte. Vielleicht wurde er aber auch von Kroll hochgewuchtet, oder Kroll und ich packten zusammen an.
Letzteres ist wohl am wahrscheinlichsten. UMD war schließlich kein Spargeltarzan gewesen. Aber immerhin gelenkig genug, um die Teppichstange zu greifen und sich mit den Füßen von (m)einer Schulter und der Wand auf die Teppichstange zu wuchten. Jetzt befand sich sein Oberkörper auf der Stange, der Rest war nur noch Formsache.
UMD bekam die Dachumrandung der Garage zu fassen und wuchtete gleichzeitig seine Knie auf die Teppichstange. Er hatte den Ball schon vor Augen, denn er war auf dem Dach nicht weit entfernt. Vielleicht wurde UMD deshalb unvorsichtig, als er seine Füße auf die Stange stellte und sich aufrichtete. Er fühlte sich mit beiden Händen an der Dachkante sicher. Zu sicher!
Denn urplötzlich bewegte sich das Sch…ding. Die Eisenstange von ca. sieben bis acht Zentimeter Durchmesser war an beiden Seiten in Eisenrohren befestigt, welche in die Wände eingemauert waren. Leider hatten die Bauarbeiter seinerzeit vergessen, die Teppichstange mit den Rohren zu verschweißen, damit sie sich nicht bewegen konnte.
Nun ja, eigentlich hatten sie es nicht vergessen gehabt, weil sich eine Teppichstange selbstverständlich bewegen können musste, um einen Teppich nach dem Ausklopfen abrollen lassen zu können. Ich selbst hatte dort in den Jahren auch ein paar Mal mit meiner Mutter oder einer meiner Sestras unseren Orientteppich ausgeklopft. Ach, war das ein Spaß! Wie schön das gestaubt hatte!
UMD hatte weniger Spaß. Überrascht durch die rollende Teppichstange, rutschte er mit einem Bein sofort ab und zog dadurch seinen Oberkörper mit. Die Erdanziehungskraft und UMDs Schwungmasse zogen seinen gesamten Körper auf die eine Seite. Weder seine Hände an der Dachkante noch das andere Bein waren in der Lage, den vollkommen überrumpelten UMD auf der Stange zu halten.
Der durch die Stange erzeugte Spin bewirkte, dass UMD nicht mit den Füßen zuerst auf den Garagenhof zuflog, sondern eine Drehung in der Luft vollführte. Beim Wasserspringen nennt man diese Figur wohl eingesprungener Salto mit Schraube. Doch selbst wenn UMDs Sprung eine gute Haltungsnote verdient gehabt hätte – der Boden vom Garagenhof bestand leider aus Teer und nicht aus Wasser.
Irgendwie landete UMD mit dem rechten Oberarm zuerst auf dem Hof und rollte sich instinktiv ab. Nur… leider war er keine Katze. Die landen immer auf den Pfötchen. Wir alle – inclusive UMD – waren erst einmal einige Sekunden lang geschockt und sprachlos.
Erst dann sah ich es. Der Oberarmknochen war gebrochen und ragte in zwei Teilen aus seinem Arm hervor. Das heißt, dass die Enden noch in den jeweiligen Gelenken befestigt waren, aber leider aus dem Arm herausgebrochen und mit diesem ein wunderschönes Dreieck bildeten, wahrscheinlich sogar gleichschenklig.
Es war nur der weiße Knochen zu sehen, so wie bei einem komplett abgeknabberten Hähnchenschenkel. Da blutete auch nichts weiter. Nicht mal an der Bruchstelle schimmerte es rot. Ein faszinierender Anblick war das gewesen, gar keine Frage. So etwas hatten wir in unserem jungen Leben zuvor nicht gesehen.
Den Anblick habe ich 50 Jahre lang nicht vergessen können, noch heute habe ich dieses Bild klar vor Augen. Und was ich ebenfalls mit absoluter Gewissheit sagen kann, ist angesichts der Verletzung umso mehr erwähnenswert: Nicht eine Träne lief UMD über seine kindlichen Wangen.
Das lag nicht nur am Schock. Auch als er dann um die Ecke nach Hause ging, heulte er nicht. Sein Vater war ja schließlich Arzt, da war er sicherlich bestens aufgehoben. Wir anderen Kinder schauten ihm nur hinterher; eine gewaltige Schockstarre hatte sich unser bemächtigt. Ich bin mir zwar nicht sicher, aber ich könnte mir vorstellen, dass wir an jenem Tag zum letzten Mal unser „Volleyball“ an der Teppichstange spielten.
Und eins dürfte Dir jetzt endgültig klar geworden sein, lieber Leser. Solltest Du UMD persönlich kennen, weißt Du ab jetzt, dass UMDs geheimer Spitzname nicht von seinem mexikanisch wirkenden Outfit oder Auftreten herrührt.
Nein,. Machete kennt keinen Schmerz!

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