Sonntag, 21. August 2011

Uncle Fester: Der Marsch der Idioten


Seit Mitte der 70er lese ich Science Fiction. Schon damals, eigentlich bis heute, gelten >1984< von George Orwell oder >Schöne neue Welt< von Aldous Huxley als „die“ SF-Romane, die eine mögliche Zukunft am realistischsten vorhersagen. Geht es im ersteren um einen brutalen Polizeistaat, wird im zweiten die perfekte Gesellschaft mit Wohlstand für Alle, keine Krankheiten, keine Kriege heraufbeschworen auf Kosten der Individualität, welches auch meiner Meinung nach noch beängstigender ist als Orwell.
Bradburys >Fahrenheit 451< oder auch Orwells >Farm der Tiere< reihen sich in diese negativen Zukunftsvisionen ein und gelten auch schon als „Hochliteratur“.
Cyril M. Kornbluth
All diese Zukunftsvisionen sind beängstigend, haben aber noch etwas gemeinsam: Sie sind von der Realität weit entfernt. Wo die Reise wirklich hingeht, hat Cyril M. Kornbluth in seiner Kurzgeschichte >Der Marsch der Idioten< aus dem Jahr 1951 bestens beschrieben.
John Barlow fällt bei einem Zahnarztbesuch 1988 nach Verabreichung eines neuen Narkosemittels ins Koma, aus dem er erst in der Zukunft von einem Töpfer geholt wird, der eine Salzglösung an die richtige Stelle im Körper spritzt.
John Barlow entpuppt sich als nerviger Charakter, fremden- und rassenfeindlich und voller Vorurteile. Viel scheint sich ja nicht verändert zu haben. Allerdings leidet die Welt unter einer Bevölkerungsexplosion (5 Billionen). Die meisten Menschen sind grenzdebile Idioten, egal ob Chef oder Arbeiter. Die wahre Macht wird von einer Elite von ca. 3 Millionen ausgeübt, die ihre Zentrale am Nordpol hat.
Diese Elite versucht bereits alles, um die sprunghaft ansteigende Bevölkerungszahl in den Griff zu kriegen. In den Kinos laufen Filme über den Vorteil der Kinderlosigkeit. Unfälle werden arrangiert. Das Alles reicht nicht aus, um die Bevölkerungsexplosion zu stoppen.
John Barlow, die Nervensäge aus der Vergangenheit, hat die passende Lösung parat. Er erpresst die Elite, ihn zum Weltdiktator zu ernennen. Kurz darauf laufen die ersten Werbespots, in denen der staunenden Bevölkerung von den Vorteilen des Lebens auf der Venus erzählt wird. Keine Überbevölkerung, saubere Umwelt – ein richtiges Paradies.
Bald danach wetteifern ganze Städte darum, möglichst schnell zur Venus zu gelangen. Das Material (Häuser etc.) wird zu Raumschiffen umfunktioniert und dann sind sie auf dem Weg.
Ganz zum Schluß der Erzählung wird John Barlow selbst in eine Rakete zur Venus verfrachtet. Der Henker wird nie zum Essen eingeladen, denkt er noch, während sein Körper von der enormen Beschleunigung zerquetscht wird.
Wunderschön und passend ist die Beschreibung, wie Barlow erfurchtsvoll staunend in den Sportwagen steigt. 250 km Spitze! Doch er merkt es noch, dass die angeblich hohe Geschwindigkeit mittels gefälschter Tachoanzeige und einer Windmaschine lediglich vorgetäuscht wird. Der technische Fortschritt muss halt weitergehen; zumindestens sollen die Idioten das glauben. Merken tun sie es eh nicht.
Die Manipulation öffentlicher Meinung durch die Medien – insbesondere durch Werbung und Unterhaltungsshows – erleben wir heute auch schon. Der Staatsterror aus 1984 kommt nicht direkt auf uns zu, sondern über RTL und Pro7.
Cyril M. Kornbluth wurde 1923 geboren und war Mitglied der Futurians, einer Gruppe von Science Fiction Schriftstellern um Isaac Asimov und Frederic Pohl. Mit Pohl zusammen schrieb er den Klassiker >Space Merchants (Eine Handvoll Venus und ehrbare Kaufleute)<, bei dem die in den 50ern durchstartende Werbe- und Fernsehwelt ebenfalls eine tragende Rolle spielt.
Viel zu früh starb Kornbluth im Alter von 34 Jahren auf einem Bahnsteig an einem Herzanfall, nachdem er gerannt war, um seinen Zug noch zu bekommen.
Trotz seiner kurzen Schaffensphase bereicherte er die Science Fiction um das Element der Satire und Gesellschaftskritik und verhalf dem Genre zu einem höheren Niveau.

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