Donnerstag, 23. Juli 2020

Hartmudo: Mutter


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Meine Sestras und ich warteten also nach der Wohnungsbegehung mit dem Dottore auf einen Termin beim Notar zur Unterzeichnung eines Kaufvertrages. Witzigerweise war der Notar dann ganz in der Nähe meines Büros in Salzgitter stationiert.
Traditionellerweise bestimmt der Käufer den Makler. Und der Dottore wickelte seine Geschäfte gern über diesen Notar in Salzgitter-Lebenstedt ab. Montag, 20. März 2017 in der Chemnitzer Strasse. Das ist keinen Kilometer von meinem Büro entfernt, mitten in der Fußgängerzone. Knapp hinter dem Notar befindet sich mit der Jever meine alte Stammkneipe. Nein, keine Angst, ich wollte mich weder vor noch nach dem Termin beim Notar zusaufen.
Das Treffen war für 18.00 Uhr angesetzt, weil Reiner noch solange arbeiten musste und Sunny nicht allein dort aufkreuzen wollte. Hierfür habe ich nach wie vor vollstes Verständnis, auch wenn ich mich fast nur noch despektierlich über meine Sestra Sunny zu äußern pflege. Hier bricht meine allseits bekannte Objektivität durch; böse Zungen bezeichnen dies auch als Beamtenmentalität.
Berta ließ sich natürlich von Bud hinfahren, der aber, wie Reiner auch, im Wagen blieb. Beide hatten mit der Vertragsunterzeichnung eh nichts zu tun und wollten wohl auch keinen Grund für weitere Streitereien liefern. Es kann allerdings genauso gut sein, dass beide nach all den Begebenheiten mehr als genervt von den unnötigen Streitereien waren. Meine Löwin wollte dort nicht extra hinfahren, das war ja nun auch wirklich nicht notwendig. Bud konnte mich anschließend auch nach Hause fahren.
18.00 Uhr am Montag bedeutete für mich, dass ich eben nicht wie gewohnt um 15.00 Uhr nach Hause fahren konnte. Die Zeit nutzte ich am Arbeitsplatz und nicht in der Jever. Wäre doch zu blöd gewesen, wenn ich zum Termin des Wohnungsverkaufes unserer Mutter beim Notar strunzbesoffen aufgelaufen wäre.
Ich denke, Ihr könnt Euch alle vorstellen, das ich an jenem Nachmittag nicht mit 100%iger Konzentration bei der Arbeit war. Obwohl ich mich auf Standardtätigkeiten wie das Bezahlen von Rechnungen oder Überprüfen von Betriebskostenabrechnungen beschränkte, konnte ich das gelegentliche Abschweifen meiner Gedankengänge nicht verhindern.
Als sich Mutter im späten Frühjahr - ein Jahr zuvor - nicht mehr so wohl fühlte und wir Geschwister, also vorwiegend Berta und ich, verstärkt um sie gekümmert hatten, begann die ganze leidige Angelegenheit. Schon als es Wochen später um die Unterbringung von Mutter in einem Heim ging, brachen zwischen Sunny und mir die ersten Gräben auf. Nach Mutters Tod eskalierte die Situation zwischen uns Geschwistern vollends, weil Berta den Schmuck auf mein Betreiben hin gesichert hatte und Sunny ihr böse Absichten unterstellte.
Der weitere Ablauf war dann nur noch widerlich, hier hatte sich keiner von uns mit Ruhm bekleckert. Und jetzt endlich würden wir mit unseren Unterschriften unter dem Kaufvertrag die ganze Geschichte zu einem Ende führen. Erst danach würden wir durchatmen und um den Verlust unserer Mutter trauern können. Im Nachhinein war ich traurig, weil Mutter es nicht verdient hatte, dass sich ihre Kinder nach ihrem Ableben derart übel in die Haare kriegten. Allein dieses Bild beim Juwelier, als dieser Mutters Schmuck, auf den sie so stolz gewesen war, mit einem Hämmerchen einfach emotionslos kaputt kloppte.
Dank derart düsterer Gedanken ging ich kurz vor 18.00 Uhr nicht gerade mit federnden Schritten zum Notar hinüber. Mir war eher schwer ums Herz, so ein Ende hatte ich nicht gewollt. Aber Sunny hatte mir keine Wahl gelassen, das sehe ich heute immer noch so. Diese sch... Kohle hatte alles kaputt gemacht, das schöne Familienidyll, das ich mir so sehnlichst gewünscht hatte. Aber wenigstens brauchte ich mir ab sofort keine Gedanken mehr um ein besseres Verhältnis zu Sunny und Reiner zu machen. Das war jetzt endgültig perdu.
Da ich den kürzesten Anfahrtsweg von uns allen zum Notar hatte, war ich wie erwartet als Letzter dort. Das feuchte Wetter passte perfekt zum Anlass; eigentlich wäre ein Gang zur Jever hier passender gewesen. Aber nun...
Die Sekretärin bat mich ins Wartezimmer, wo ich auf meine Sestras und den Dottore nebst Frau traf. Nach kurzer Wartezeit, in denen wir Geschwister uns mit dem Dottore, aber nicht untereinander unterhielten, führte uns seine freundliche Mitarbeiterin ins Allerheiligste - sein Büro. Der gutgelaunte Notar schüttelte jedem von uns die Hand und lenkte uns zu den bereit gestellten Sitzplätzen.
So saßen wir in einer leichten Kurve vor seinem Schreibtisch. Wir drei Geschwister nahmen hier die rechte Seite neben dem Fenster ein. Zur Sicherheit setzte ich mich in die Mitte, da ich einem möglichen Handgemenge zwischen Berta und Sunny zuvorkommen wollte.
Als Vorgeplänkel, quasi zum Warm-Up, redete der Notar mit dem Dottore und dessen Frau. Hier war deutlich erkennbar, dass sie sich kannten. Und einen hatte ich jetzt doch tatsächlich vergessen: Der Makler war ebenfalls vor Ort. Auch er verfiel in ein charmantes Plaudern mit den Käufern. Diese Vertrautheit erinnerte mich stark an unseren Auftritt beim Juwelier, wo Sunny und Reiner ebenfalls beinahe Kochrezepte mit dem Inhaber ausgetauscht hatten.
Wir mussten nicht lange auf den Hauptgang warten. Nach einigen Minuten öffnete sich die Tür und die Mitarbeiterin brachte die Mappe mit dem grob ausgearbeiteten Vertrag. Die Show konnte beginnen.
Zuerst belehrte uns der Notar noch schnell über die Regularien beim Wohnungsverkauf, vor allem über seine Pflichten als Notar. Ausführlich erklärte er uns, verstärkt uns Geschwistern, die einzelnen Paragraphen des Vertrages. Ein Notar trägt eine Auflassungsvormerkung ein, schaut in die einzelnen Abteilungen des Grundbuches, um nach irgendwelchen eingetragenen Belastungen zu forschen und und und.
Für mich war dies wahrlich kein Neuland, hatte ich doch schon während meiner Ausbildung im städtischen Liegenschaftsamt gearbeitet und vor allem 1987 für das Land Niedersachsen im Straßenbauamt Hildesheim bald ein halbes Jahr lang Kleinstgrundstücke (meist unter 5 qm) im Zuge des Ausbaus von Ortsdurchfahrten ge- und verkauft. Also für mich hätte sich der Notar das ganze Gedöns sparen können.
Doch darum geht es bei solchen Terminen nicht, beim Kauf der Wohnung von meiner Löwin und mir lief das haargenau so ab. Wir reden hier eher über ein Ritual, fast eine religiöse Handlung. Meine Sestras hörten dem Notar deshalb andächtig, fast ehrfürchtig, zu. Dieser wendete sich mit seinen Erklärungen auch hauptsächlich in unsere Richtung, als ob er irgendwelche Teletubbies vor sich gehabt hätte.
Der Dottore und seine Frau nickten während dieser "Bibelstunde" lediglich mit ihren Köpfen auf und ab. Ein Vater Unser hätte da noch gefehlt. Ich dagegen setzte mein Pokerface auf, was für den Notar wohl überraschend kam, da er seine Erklärungen hauptsächlich an meine Adresse richtete.
Wie beim Juwelier! Meine Güte, als ob meine Schwestern die totalen Honks wären. Berta als auch Sunny (obwohl ich mit ihr im Clinch lag - doof ist sie nicht) haben selbst Häuser, kannten das Prozedere also. Vielleicht hielt der Notar beide für Dorfpomeranzen. Eine absolute Fehleinschätzung, aber so sind sie, die studierten Anzugträger.
Irgendwann war selbst dieser Spuk vorbei. Auf die übliche Frage gab es die übliche Antwort, will sagen: Keiner hatte Einwände gegen den Vertragstext vorzubringen. Wir unterschrieben alle, gaben uns gegenseitig die Hand - also den Vertragspartnern gegenüber, nicht alle miteinander.
Draußen auf der Straße verabschiedeten wir noch den Makler. Mit dem Dottore und seiner Frau sprachen wir noch kurz über die bevorstehende Eigentümerversammlung der Wohnanlage in Melverode, an der Frau Dottore bereits teilnehmen wollte. Uns selbst interessierte es ja nicht mehr. Zwar waren meine Sestras und ich offiziell noch Eigentümer, doch was sollten wir da?
Nachdem wir uns auch freundlich vom Dottore und seiner Frau verabschiedet hatten, standen meine Sestras und ich allein in der Dunkelheit im regenverhangenen Lebenstedt herum. Reiner schlich in der Nähe von uns sichtbar herum; wie Bud hatte er sich bewusst herausgehalten, um einer Eskalation vorzubeugen.
Der Abschied zwischen meinen Schwestern verlief ausgesprochen frostig. Wortlos gingen beide auseinander. Sunny und ich rafften uns wenigstens noch zu einem "Tschüss" auf. Kurz sprachen wir noch darüber, das wir uns noch wegen der Kontoauflösung sehen würden. Dann ging ich mit Berta Richtung Auto und Bud; die Beiden fuhren mich nach Hause. Die Stimmung im Auto war schwer zu beschreiben. Weder gelöst noch verkrampft, Berta und ich fühlten uns nur noch leer.
Sunnys Gefühle vermag ich nicht zu beschreiben. Nach meinem Abschiedsgruß gingen Berta und ich auch gleich los. Ich drehte mich auch nicht mehr nach Sunny um. Mir fiel auf alle Fälle ein Riesenstein vom Herzen, weil ich gerade eben einen schweren Termin überstanden hatte.

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