Dienstag, 23. Oktober 2018

Hartmudo: Mutter

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Kam es an diesem Tag zur Eskalation, weil wir Sunny nicht Bescheid gesagt hatten, das Berta den Schmuck am Tag vor der Trauerfeier zu Mutters Ehren sicherheitshalber aus der Wohnung nahm? Oder fühlte sich Sunny einfach nur übergangen, weil sie „schon immer zu kurz" gekommen war?
Reiner und Sunny sprachen es wohl nicht offen aus, aber die beiden Schwerenöter argwöhnten nicht nur, das sich Berta und ich gegen Sunny verbündet hätten, sondern unterstellten uns, oder vielmehr Berta, das sie/wir uns auf Kosten von Sunny bereichert hätten, mithin Wertgegenstände unterschlagen würden.
Hier erwähnte Sunny wieder und wieder das Abendtäschchen mit Strass, in dem sogar noch Sparbücher gewesen sein sollten. Wie Rumpelstilzchen sprang Sunny auf und ab, dazu geiferte sie wie Cruella De Villle aus „101 Dalmatiner". Farblich dazu passend stand Reiner mit hochrotem Kopf mitten im Geschehen und fühlte sich wohl wie ein Fels in der Brandung. Diese Meinung hatte er exklusiv, ich fand es einfach nur affig.
Berta und mir wurde irgendwann klar, das dieses Wortgefecht zu keinem Ergebnis führen würde. Keiner war bereit, dem anderen zuzuhören oder auch nur ein Yota nachzugeben. Immer wieder kamen dieselben Argumente - von beiden Seiten wohlgemerkt.
Da dieses Gebrülle fruchtlos war und ich mich schon richtig in Rage geredet hatte, entschloss ich mich kurzerhand, die Aktion abzubrechen und aus Mutters Wohnung zu verschwinden. Es war quasi eine Flucht, denn ich war nur noch angepisst und wollte nur noch weg. Diese Unterstellung, „wir" hätten etwas von den Wertgegenständen beiseite geschafft, fand ich äußerst deplatziert. Nie hätte ich gedacht, das wir unter uns Geschwistern jemals so schlecht voneinander denken würden.
Beim Runterlaufen der Treppen hörte ich Sunny noch irgendetwas rufen, allein ich verstand nicht ein Wort. Einerseits hing ich meinen Gedanken nach, andererseits schaffte ich es zu meiner eigenen Verblüffung, Sunny's Worte wie in Watte zu packen und daher nicht verstehen zu müssen. Ich kann diesen Zustand heute kaum anders beschreiben.
Die Dämmerung war schon heraufgezogen, als ich unten ankam und aus der Haustür ins Freie trat. Kurz zuvor muss es richtiggehend geregnet haben, denn der Fußweg war nass und voller Pfützen. Jetzt regnete es nicht mehr, aber auch so passte das Bild zu den vorangegangenen Ereignissen in Mutters Wohnung.
Endlich Ruhe! Mein zuvor noch rasender Puls beruhigte sich langsam wieder, als ich mehrmals tief ein- und ausatmete. Was war das denn eben nur gewesen? Am Beginn dieses Treffens verstanden wir uns noch gut und trafen Absprachen über unser weiteres Vorgehen, der ganze Streit der letzten Wochen schien schon vergessen.
Und dann, von einer Sekunde zur anderen, kippte das Ganze. Die vollkommen schwachsinnigen Anschuldigungen und Unterstellungen durch Reiner und Sunny hatten mich richtig aus der Fassung gebracht. Und Reiner stand da wie weiland Roland Freisler vor dem Volksgerichtshof und klagte Berta mit drohender Stimme an. Sie sollte endlich gestehen - mir fällt als Vergleich wirklich nur Freisler ein.
Nachdem ich ein paar Schritte über den Parkplatz gegangen war, kam Berta von hinten angerannt. Auch sie hatte die Wohnung verlassen, weil sie es ebenfalls nicht mehr mit den beiden Cholerikern aushielt. Das sie es überhaupt länger als ich mit den beiden ertragen konnte, zollte mir großen Respekt ab. Schließlich stand sie und nicht ich die ganze Zeit während unseres Streits im Dauerfeuer.
Sunny schiebt richtiggehend einen gewaltigen Hass auf Berta, als ob ihre Schwester ihr ein großes Leid angetan hatte. Ich dagegen kriegte das Donnerwetter nur am Rande ab. Als ob Sunny mich nicht für voll nehmen würde. Ja, genau das wird es wohl sein.
Weder Berta noch ich hatten auch nur den Hauch einer Chance, das Sicherstellen der Wertgegenstände sachlich zu erklären, ja selbst meine zarte Entschuldigung, dass ich es vergessen hatte, Sunny vom Sicherstellen zu informieren, wurde einfach niedergebrüllt. Das war wirklich unterste Schublade, was Reiner und Sunny da boten.
Berta war ebenfalls ziemlich aufgewühlt, bot mir aber noch an, mich nach Hause zu fahren. Ich lehnte dies dankend ab, denn ich wollte jetzt alleine sein und meine Löwin anrufen. Mein „Nein, danke, ich fahr mit der Straßenbahn" kam wohl etwas schroff rüber, ich könnte dies an Bertas Blick erkennen. Mit beschwörenden Gesten erklärte ich es Berta noch einmal und hielt meine Stimme dabei ruhig, auch wenn es mir schwerfiel. Nicht nur Berta war aufgewühlt, mir ging diese unerquickliche Begegnung ebenso an die Nieren.
Berta ging zurück, setzte sich wahrscheinlich in ihr Auto. Ich war da schon um die Ecke weitergegangen und latschte den Weg neben dem Hochhaus in Richtung Straßenbahn entlang. Als ich außer Sicht und sicher war, das mich nicht noch Reiner oder Sunny sahen und mir hinterhergröhlten, zog ich mein Smartphone aus der Tasche.
Feige, oder? Wie unter Schock, aber auch angewidert von meiner Schwester Sunny rief ich meine Löwin an und fragte sie, ob wir zusammen essen wollten. Meine Löwin hatte noch nichts gegessen und war hochmotiviert für den Griechen in Melverode.
Im Helena an der Leipziger Straße gab es heute Gyros satt, also „all you can fress". Dazu hatten wir ja das Butler Bonusheft, da wäre dann das zweite Essen umsonst. Nach dem bisher übel verlaufenen Abend war das genau die Aktion, die ich brauchte. Meine Löwin wollte auch gleich losfahren, zumal ich ihr nicht viel von den Ereignissen des Treffens erzählen musste, sie hörte das allein schon an meiner Stimme. Wir verabredeten uns sogleich im Restaurant; ich würde zu Fuß 15 bis 20 Minuten brauchen.
Der Fußmarsch tat mir gut, um den Kopf wieder frei zu bekommen. Wut und Trauer ob des zerstörten Familienfriedens wechselten sich munter miteinander ab. Als ich an der Bonhoeffer Kirche vorbei ging, musste ich kurz an unsere Eltern denken. Anlässlich der Tode von Vater wie von Mutter war ich, wie auch meine Schwestern, beim Gottesdienst nach der jeweiligen Trauerfeier gewesen, als ihre Namen noch einmal genannt wurden. Insbesondere mein Vater würde sich im Grab herumdrehen, wenn er den Streit in Mutters Wohnung miterlebt hätte. Mutter hätte unser gegenseitiges Zerfleischen zwar auch traurig gestimmt, aber sie hätte sich in ihrer Meinung bestätigt gefühlt, das sich ihre Kinder nicht um sie kümmern würden.
Nach dem Spaziergang ging es mir schon etwas besser, meine Löwin war noch nicht im Helena eingetroffen. Cola Light war mein Getränk des Abends,nur mal so nebenbei. Dienstags immer alkoholfrei wegen der Metoxspritze, gelle. Meine Löwin traf auch nach kurzer Zeit ein und wir ließen uns schnell die erste Portion Gyros liefern.
Zu den jeweils sehr leckeren Gyros Variationen informierte ich meine Löwin ausführlich über die Geschehnisse in Mutters Wohnung. Sie zeigte in keinster Weise Verständnis für Sunny's mehr oder weniger direkt geäußerten Vorwurf an Berta, etwas von den Wertgegenständen beiseite geschafft zu haben.
Als ich die Szene mit Sunny und Reiner mit Hilfe meiner Löwin noch einmal beleuchtete, dämmerte mir so nach und nach, das der Vorwurf von Sunny, Wertgegenstände beiseite geschafft zu haben, nur aus einem Grund erhoben wurde. Sunny wollte selbst den einen oder anderen Wertgegenstand „sichern", bloß leider kam Berta ihr zuvor.
Daher ignorierte sie die Gefahr eines Diebstahls durch professionelle Einbrecher komplett; normalerweise wäre sie die erste gewesen, die an diese Möglichkeit gedacht hätte. Und indem sie Berta anranzte und beschuldigte, konnte sie gut von ihren eigenen Intentionen ablenken.
Wenigstens klang der bescheidene Abend mit einem empfehlenswerten Essen aus und meine Löwin und ich ließen den Abend gemütlich ausklingen. Berta grübelte wohl noch die ganze Nacht über die Geschehnisse nach, ihr gingen die Vorwürfe sichtlich nah. Wie Sunny sich gefühlt haben mochte, interessierte mich an dem Abend genauso viel wie heute.
Nämlich überhaupt gar nicht.

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