Samstag, 23. September 2017

Hartmudo Spezial: Mutter

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Obwohl ich heute frei hatte, war der ganze Tag gut mit Terminen gefüllt. Die Beerdigung von Jopi's Vater und das Gespräch mit Mutters Hausarzt standen ganz oben an. Obwohl der Anlass des von mir genommenen Urlaubstages nicht so schön war, war ich trotzdem guter Dinge am frühen Morgen. Ich konnte endlich ausschlafen, was ganz gut kam nach all dem Stress gestern.
Nachdem meine Löwin zur Arbeit weggeritten war, machte ich es mir mit einem Kaffee und Toast gemütlich. Dazu schaute ich die vierte Staffel von House of Cards weiter, denn ich hatte noch genügend Zeit bis zur Trauerfeier von Jopi's Vater. Die war ja erst so gegen 11.00 Uhr angesetzt.
An diesem Vormittag schaffte ich zwei Folgen von House of Cards, dieser göttlichen Serie, die meiner Ansicht nach die Wahl von Hillary Clinton zur US Präsidentin verhindert hatte. Claire und Frank Underwood erinnern halt sehr stark an Hillary und Bill Clinton. Unmittelbar danach warf ich mich in Schale. Schwarzes Sakko, schwarze Hose, schwarze Schuhe, schwarzer Binder und natürlich das weiße Hemd von Walbusch.
Zwischendurch erhielt ich zur Abwechslung eine WhatsApp von Sunny. Sie und Berta wollten an diesem Nachmittag Mutter besuchen. Sie wies mich an, auf keinen Fall beim Arzt eine Einweisung von Mutter ins Hospiz auch nur zu fordern, geschweige denn zu veranlassen. Für Sunny lag Mutter noch nicht im Sterben. Den Wunsch, eine eventuelle Einweisung in ein Hospiz mit Mutter vorher noch selbst besprechen zu wollen, konnte ich nachvollziehen und schluckte meinen leichten Groll hinunter, weil Sunny mir schon wieder vorschrieb, was ich zu machen habe, anstatt es selbst zu erledigen, denn mitzukommen hielt sie ja auch am Vortag nicht für nötig.
Mitten in einer Folge House of Cards, als sich Francis und Claire Underwood gerade mal wieder angifteten, rief auf einmal Berta an. Ich hatte sie am Vorabend noch aus dem Keller von Herbert während dessen Geburtstagsfeier angerufen, aber es war andauernd besetzt.
Jetzt erfuhr ich endlich, warum ich Berta am Donnerstag Abend nicht erreichen konnte. Berta hatte am frühen Abend mit Gundula gesprochen und hinterher den Telefonhörer nicht richtig aufgelegt. Da konnte ich ja lange anrufen. Auch Berta bot ich an, heute zum Hausarzt um 14.00 Uhr mitzukommen. Gerade wenn es um eine mögliche Überstellung ins Hospiz geht, wäre es sicherlich für meine Schwestern interessant gewesen.
Und zumindest Berta hatte Interesse, beim Hausarzt mit dabei zu sein. Gerade wegen einer möglichen Überstellung von Mutter in ein Hospiz wollte Berta unbedingt mitkommen und schaufelte sich den Termin frei. Um 14.00 Uhr wollten wir uns vor dem Eingang des Arztes im Einkaufszentrum von Melverode treffen. Ich war hocherfreut, das Berta mich begleiten wollte. Vier Ohren hören halt mehr als zwei.
Da ich dankenswerterweise den Polo von Phil noch zur Verfügung hatte, konnte ich zielgenau losfahren und war ca. 5 Minuten vor Beginn der Trauerfeier in der Bonhoefferkirche in Melverode, wo ich seinerzeit auch konfirmiert wurde. Als ich kurz danach vor der Kirche stand, wunderte ich mich. Nanu, alles dicht? Was war denn jetzt los?
Da fiel es mir wieder ein: Die Trauerfeier fand nicht in der großen Kirche im Einkaufszentrum, sondern in der kleinen Nicolaikapelle an der Leipziger Straße statt. Blitzschnell ging ich zum Polo, fuhr die kurze Strecke dorthin und hatte noch riesiges Glück, dass ich genau gegenüber dem Eingang zur Kapelle einen freien Parkplatz erwischen konnte. Schnell huschte ich in die Kapelle rein, gleich nach mir wurde die Tür geschlossen.
Der nächste freie Platz war meiner. Ich schnappte mir eins von den Gesangbüchern und lauschte gedankenverloren der Andacht des Pastors. Ja, ich kannte Jopi's Vater, aber dank der liebevollen Zusammenfassung seines Lebens durch den Pfarrer habe ich Sachen über ihn erfahren, die ich als Kind oder auch Jugendlicher nie wusste. Der „Herr Doktor", wie mein Vater ihn immer spöttisch ob seiner akademischen Bildung und offensiv zur Schau gestellten Intellektualität nannte, war begeisterter Wanderer und jahrelang Kirchenvorstand in Melverode gewesen. Nach dieser Rede habe ich dank des Pfarrers ein rundes Bild von Jopi`s Vater gewinnen können.
Nach ca. einer halben Stunde war die Show vorüber und es kam zum großen Handshaking vor der Kirche. Die Trauerfeier, landläufig auch Leichenschmaus genannt, hatte Patti für Jopi und Edith in Helenas Bistro organisiert, da beide dies von Köln bzw. Aachen aus schlecht organisieren konnten.
Gerne setzte ich mich noch mit dazu und versuchte, an den toten Vater im Gespräch zu erinnern. Jopi's Sohn konnte hierbei kurz bestätigen, das sein Opa früher gerne Sportschau geguckt hatte. Diese mir sympathische Seite des Verstorbenen war mir völlig neu. Leider konnte ich diese Unterhaltung nicht am Laufen halten, was auch meiner eigenen Nachdenklichkeit wegen Mutter geschuldet war. Mit Jürgen, der ja Schwiegersohn ist und neben mir saß, konnte ich dafür wenigstens noch über alte Geschichten aus unserer Jugend schwätzen.
Kurz vor 14.00 Uhr verabschiedete ich mich und brachte noch kurz Patti und den Vater von Ronja nach Stöckheim. Anschließend fuhr ich direkt zum Hausarzt von Mutter. Im Einkaufszentrum Melverode angekommen, stürzte ich überfallartig in die Pizzeria La Vita, weil ich ganz dringend puschern musste. Das La Vita ist gegenüber vom Hausarzt gelegen. Ich bot dem Wirt 50 Cent fürs Pinkeln an, die dieser aber nicht annehmen wollte. Lachend winkte er ab.
Berta trudelte gerade ein, als ich nach dem Toilettengang aus der Pizzeria in Richtung Hausarzt gehen wollte. Das passte ja vorzüglich. Die Sprechstundenhilfe platzierte uns ins Wartezimmer. Hier erzählte mit Berta, das sie Sunny gegen 15.00 Uhr von zu Hause aus abholen wollte, um mit ihr Mutter zu besuchen. Als wir schon mehr als eine halbe Stunde im Wartezimmer herumsaßen, rief ich Sunny an, damit sie wusste, warum sich Berta verspäten würde.
Unmittelbar nachdem ich ihr erzählt hatte, wo Berta und ich waren, fing sie sofort an zu hyperventilieren. Sie beschwerte sich lauthals darüber, das Berta mit dabei war und fühlte sich mal wieder übergangen. Auf einmal wäre sie doch mitgekommen. Genervt reichte ich mein Smartphone an Berta weiter, die ihrerseits begann, ins Handy zu brüllen.
Sie erklärte Sunny das Malheur mit ihrem Telefon am Vorabend, weil sie den Hörer falsch aufgelegt hatte, aber Sunny zeigte sich zickig. Um es kurz zu machen: Die beiden waren hinterher wohl noch bei Mutter in dem Heim und konnten sich davon überzeugen, das die Spritzen notwendig waren. Mutter dämmerte nur noch gedankenverloren vor sich hin, heute weiß ich, dass da schon der Sterbeprozess begonnen hatte.
Der Arzt erschien erst nach einer Stunde Verspätung und erklärte Berta und mir in einem längeren Monolog den Krankheitsverlauf von Mutter. Der Leberkrebs hatte mittlerweile Metastasen gebildet. Die Haut war derart brüchig, das das Abreißen eines Morphiumpflasters die empfindliche Haut mit heruntergerissen hätte. Von schwächeren Tabletten wie z.B. Ibuprofen und ähnlichen Dingen war gar nicht mehr zu reden, dazu war die Leber zu schwach und die Wirkung nicht mehr ausreichend.
Es sei ein Wunder, das sie überhaupt noch so lange schmerzfrei geblieben war. Bei diesem Satz dämmerte mir endlich, das Mutter wahrscheinlich schon die ganze Zeit unter Schmerzen litt und dies nicht zugeben wollte, weil sie den Tod kommen sah, es aber nicht wahr haben wollte. Vielleicht aber wollte sie uns Kinder nicht beunruhigen.
Als ich nach dem Hospiz fragte, schüttelte der Arzt nur mit dem Kopf. Denn der Sterbeprozess habe noch nicht angefangen. Es könnte gut sein, das Mutter noch ein paar Monate zu leben hat. Oder Wochen, Tage... Auf die nüchterne Art, wie er dies beschrieb, machte er auch Berta klar, das wir uns nicht mehr lange an Mutter erfreuen dürften.
Und da er dann noch davon abriet, Mutter in ein anderes Heim - also das Curanis in Stöckheim - zu verlegen, auf keinen Fall ins betreute Wohnen, weil nunmehr ein erhöhter Pflegebedarf besteht, da war eigentlich alles klar. Für mich reichten diese Ansagen, ich brauchte Mutter nicht zu sehen, um mir über das Für und Wider einer Morphiumspritze Gedanken zu machen.
Da Mutter wahrscheinlich nur noch ein paar Wochen zu leben hatte, sind Morphiumspritzen besser, als wenn sie (weiter) Schmerzen leiden müsste.Der Hausarzt erklärte sich sogar bereit, bei Bedarf eine Einweisung in die Palliativmedizin in den Marienstift zu helfen. Im Marienstift fühlte sich Mutter in der Vergangenheit bekanntlich immer gut aufgehoben.
Im Nachgang war es 100prozentig schade, dass Sunny bei diesem Gespräch nicht zugegen war. Vielleicht hätte Berta Sunny einfach nur 4 Stunden früher anrufen sollen, als dass ich Sunny ein paar Minuten, bevor Berta sie abholen wollte, alibimäßig anklingelte. Dann wäre Sunny auch mit dabei gewesen und wäre wie Berta und ich mit der bitteren Wahrheit konfrontiert worden.
Der anschließende Besuch beider Mädels bestätigte letztlich die Einschätzung des Arztes. Aber Sunny fehlte wohl genau dessen Ansagen, die sie so nur aus „zweiter Hand" erhielt. Es kann gut möglich sein, das sich anschließend vieles anders entwickelt und wir in der Folge unseren Familienfrieden nicht zerstört hätten.

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