Mittwoch, 8. März 2023

H Lecter: Angie

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Ganz am Anfang unseres Zusammenlebens in der Juliusstraße - also ungefähr 1986 oder 1987 - war Angie unterwegs gewesen und am Ende in der Eckkneipe gegenüber eingekehrt. Später am Abend kam sie schwer angeschlagen in die Wohnung gestürmt und war total euphorisiert.
Die ehemaligen Braunschweiger Bierstuben, eine stadtbekannte Bufferkneipe, hatten den Besitzer gewechselt und firmierten nun als Gambit. Das anfangs von drei Sozialarbeitern geführte Lokal bestach durch die seinerzeit revolutionäre Speisekarte mit überbackenem Gemüse oder frittierten Kartoffelwürfeln.
Die Idee zu diesen Gerichten hatten der leider viel zu früh verstorbene Mann von Bärbel und dessen Kumpel Andre - damit wären die drei Sozialarbeiter auch genannt. Hauptattraktion hierbei war der überbackene Blumenkohl. Dies war nichts weiter als Blumenkohlröschen in einer Sahnesoße, darüber Schinkenwürfel und Käse. Ab damit im Ofen oder Mikrowelle - und fertig ist die studentenfreundliche und relativ gesunde Mahlzeit.
Wie ich Jahre später vom Geschäftsführer erfahren konnte, bestand die wesentliche Geschmacksbereicherung aus ein bis zwei Esslöffeln Pilzfond in der Sahnesoße. Da man im Gambit an den alten Holztischen gemütlich sitzen konnte und der Fokus auf ein ebenfalls trinkfreudiges Publikum ausgerichtet worden war, wurden wir hier sehr schnell heimisch und machten das Lokal - die Szenekneipe - zu unserem Wohnzimmer.
Angie wohnte ja nur ca. zwei Jahre mit mir zusammen, hauptsächlich traf ich mich dort mit Uli, als dieser neben dem Arbeitsamt gewohnt hatte. Denn für die Freunde des gepflegten Biergenusses bot das Gambit seinerzeit einzigartiges: Es gab Veltins und Jever vom Fass; beides noch dazu im Halbliter Steinkrug.
Für Uli und mich waren die Halbliter Steinkrüge natürlich Pflichtprogramm gewesen. In keinem anderen Laden in Braunschweig gab es die Halben aus Steinkrügen, allerdings muss ich auch aus heutiger Sicht bescheinigen, dass man Jever besser aus den bekannten Tulpengläsern trinken sollte. Und Veltins... sollte man überhaupt meiden.
Ich möchte es mal so formulieren: in all den Jahren im Gambit wurde Aspirin zu einem meiner besten Freunde. Gerade in den späteren Jahren, also gegen Ende der 90er Jahre, hatte sich das Gambit einen festen Platz in der Szenegastronomie von Braunschweig gesichert.
Insbesondere in der warmen Jahreszeit, als die großzügige Außenbestuhlung zumeist vollkommen besetzt war, herrschte hier ein reges Treiben vor. So war es für mich vollkommen normal, im Sommer am frühen Nachmittag aus meinem Wohnzimmerfenster auf die Tische vorm Gambit zu schauen, um die Lage zu checken.
Wenn ich dort an einem der Tische Freunde entdecken konnte und selbst ein wenig unternehmungslustig war, ging ich die knapp 30 m Luftlinie dort hin und setzte mich zu ihnen. Doch noch häufiger klingelte mein Telefon.
Viele Freunde, welche einfach nur schnell ins Gambit wollten, riefen vorher an, um zu erfahren, ob ein Tisch frei war. In der Regel wurde ich dann gebeten, dort hinunter zu gehen und einen der wenigen freien Tische zu besetzen, bis meine Freunde dort eingetroffen waren. Dem kam ich immer gerne nach, da ich in jenen Jahren als Single spontan und unternehmungslustig gewesen war. Allzeit bereit zur Action; ein Pils am Nachmittag passte immer rein.
Des Nachts war dort immer bis 2 Uhr Betrieb. Falls Andre hinter dem Hahn gestanden hatte, wurde das Gambit häufig um Zwei abgeschlossen und dann konnte es die ganze Nacht hindurchgehen. Ich bekam dies mit, weil ich ja genau gegenüber wohnte und leider auch ein paar Male davon wach wurde, wenn betrunkene Leute früh am Morgen aus dem Gambit getorkelt waren.
Hier muss ich allerdings noch einschieben, dass die Außen-Restauration immer um 22.00 Uhr beendet worden war. Und das Sitzen im Freien vor dem Gambit wurde von Jahr zu Jahr immer beliebter.
Gerne erinnere ich mich an die schönen Sonntagvormittage mit Uli zum Frühstück zurück. Zu Sild und Lachs nahmen wir dort die ersten Halben des Tages zu uns, bevor wir den Tag sanft ausklingen ließen. Doch Angie, die den Laden mehr oder weniger durch Zufall entdeckt hatte, war in den 90ern immer seltener zugegen.
Sie war fortgezogen und Mitte der 90er verlor ich sie komplett aus den Augen, doch dazu später aber mehr. In den Anfangsjahren war Angie immer gerne dabei, wenn es galt, im Gambit einen Steinkrug sicherzustellen. Gern hatten wir sie alle eingeladen, da sie in ihrem Beruf nicht so viel verdiente und immer knapp bei Kasse gewesen war.
Abgesehen davon hielt sie sich lieber in unserer Wohnung auf, weil man dort in Ruhe eine Rakete starten lassen konnte. Und Gegen Ende der 90er Jahre, als die meisten von uns beruflich oder familiär stark eingebunden worden waren, frequentierte auch ich das Gambit immer seltener.
Jetzt genoss ich die Rauchpausen in der von mir allein bewohnten Wohnung, während ich über die 1 m hohen Boxen von meinem alten Freund Aki in voller Lautstärke AC/DC hörte. Zu diesem Zeitpunkt führte Bärbel das Gambit bereits in Eigenregie und wohnte über dem Gambit, also mir genau gegenüber.
Wie Bärbel mir irgendwann berichtete, musste sie immer lächeln, wenn Sie die laute Musik aus meinem Wohnzimmer mitbekommen hatte. Dann wusste sie, wo die Rakete gestartet worden war. Doch dies geschah alles nach der Zeit mit Angie.

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