Sonntag, 8. Januar 2023

H. Lecter: Alf

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Da sich Alf mittlerweile gar nicht mehr rührte, hatten wir die undankbare Aufgabe, ca. 130 Kilogramm totes Fleisch über die Treppe in den Bus zu wuchten. Naturgemäß gestaltete sich dies schwierig, da der Fleischberg gerade mal so durch die Öffnung passte und nicht in der Lage war, konstruktiv mitzuarbeiten.
So dauerte es einige Zeit, bis wir ihn da durchgeschoben hatten. Von oben bzw. innen fasste ein kräftiger Typ Alf unter die Arme und zog ihn hoch, während Detzer und ich ihn mit vereinten Kräften von unten die Treppe hinauf schoben.
Vollkommen erschöpft packten wir den bewusstlosen Alf in die nächste freie Zweierreihe gegenüber dem Einstieg. Platt wie eine Flunder lag er nun da, breitbeinig auf dem Rücken über beide Sitzplätze verteilt. Noch auf der Hinfahrt hatten zwei lebenslustige Frauen in dieser Reihe gesessen.
Da waren sie von diesem netten Mann sehr angetan gewesen, doch jetzt hielt sich die Begeisterung vom Vormittag in Grenzen. Angewidert von Alfs Anblick setzten sie sich in eine andere Reihe, denn dieser machte wahrlich keinen guten Eindruck.
Sein Gesicht war voll verschwitzt, die Augen zu und der Mund geöffnet. Die schief hängende Brille sowie die vollgepisste Vorderseite seiner Hose verstärkten den derrangierten Eindruck nur noch. Auch Frank-Walter zeigte sich not amused, hielt sich aber wenigstens mit abschätzigen Kommentaren zurück.
Die Sonne war schon längst untergegangen, als wir endlich losfuhren. Verständlicherweise war die ausgelassene Stimmung der Hinfahrt verflogen, dies lag allerdings nicht an Alf allein. Vielmehr waren alle etwas müde und dementsprechend nicht in der Stimmung, um zu der nach wie vor abgespielten Schlagermusik mitzusingen, geschweige denn zu tanzen.
Zum Glück hatte der Busfahrer ein Einsehen und stellte die Lautsprecher leise, damit die schlafwilligen Mitreisenden etwas entspannen konnten. Das erwies sich für den harten Kern der deutschen Trinkerjugend gleichzeitig als Gelegenheit, die im Weingut gekauften edlen Tropfen zu probieren.
Hier waren Detzer, Frank-Walter und ich natürlich wieder mit von der Partie, aber bei weitem nicht die einzigen. Und so dauerte es nicht lange, bis wir uns wieder in ausgelassener Stimmung befanden.
Wie nicht anders zu erwarten war, wachte Alf dank der lauter werdenden Gespräche und des Gelächters wieder auf. Keine Feier ohne Meier - schon war er wieder obenauf. Sehr schnell hatte er wieder eine Weinflasche an den Lippen und wagte sich sogar an eine Likörflasche, welche er eigentlich für seine Frau eingekauft hatte.
Die schon angesprochenen lebenslustigen Frauen versuchten immer noch, Alf mit ihren Blicken zu töten, was ja nicht verwunderlich war. Sie sahen nur noch den besoffenen und fetten Kerl, welcher wie der letzte Penner den Schnaps gierig aus der Pulle soff. Verstärkend hinzu kam die immer noch nasse Hose.
Alf selbst machten die strafenden Blicke der Damen nichts aus, voller Euphorie arbeitete er an einer verstärkten Rauschwirkung, als ob es demnächst nichts mehr zu Saufen geben würde. Vollgas oder nichts, seine altbekannte Devise.
Sicherlich hast Du nach all den geschilderten Abenteuern mit Alf den Eindruck gewinnen müssen, das Alf dem Charakter eines Mösenfröhlichs entspricht, der beim Anblick einer schönen Frau alles stehen und liegen lässt, um mit seinem angeborenen Charme die Damen zu bezirzen.
Doch dieses Bild wird ihm nicht gerecht, die Sucht - nein, die Gier! - nach Alkohol stand bei Alf immer an erster Stelle, noch vor dem Sexualtrieb. Erst im Vollrausch fühlte er sich frei, sämtliche Zwänge, die ihm seine bürgerliche Existenz, gerade auch die Mitarbeit in der evangelischen Kirchengemeinde, auferlegte, waren vergessen.
Und erst wenn er sich "frei" fühlte, war sein Selbstbewusstsein auf einmal riesengroß, so dass er die Damenwelt in schöner Regelmäßigkeit frech, aber immer charmant, beeindrucken konnte. Doch als er bei dieser Rückfahrt den nötigen Rauschzustand erreicht hatte, schreckten ihn die säuerlichen Gesichtszüge der anwesenden Frauen genügend ab, bevor er seine Jagdinstinkte aktivieren konnte.
Mit seiner vollgepissten Hose sah Alf zwar sehr schräg aus, aber für die vielleicht zehn wach gebliebenen Kerle war dies kein Hindernis, um mit Alf zu lachen und zu scherzen. Nach einer runden halben Stunde war dieser Spuk sowieso wieder vorbei, denn Alf hatte dann die Likörflasche geleert und war augenblicklich wieder eingeschlafen.
Da wir anderen uns auch nach und nach zurückzogen, kam jetzt für die Damen die Zeit zum Lästern. Auf der Hinfahrt war Alf für sie noch das Zuckerstückchen gewesen, nunmehr mutierte er zum Feindbild schlechthin. Im Hintergrund bekam ich ihr Gezeter gerade noch so mit, obwohl ich die Worte nicht mehr verstehen konnte.
Friedlich döste ich vor mich hin und ließ den Tag ausklingen, bevor mich der Busfahrer freundlicherweise an der Autobahnauffahrt Lehndorf ablieferte. Den Fußweg nach Hause bis zum Amalienplatz schaffte ich noch. Was Detzer und Frank-Walter auf der Rückfahrt gemacht hatten, wusste ich da schon nicht mehr. Ich möchte nicht wissen, wie Alf nach Hause gekommen war. Womöglich hatte ihn seine Frau abgeholt, was in all den Jahren allerdings eher selten vorgekommen war.

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