Donnerstag, 8. September 2022

H. Lecter: Alf

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Auch der Akkordeonspieler hatte seinen Spaß. Voller Glückseligkeit grinste er über beide Backen und schunkelte mit Alf zusammen im Takt, dass es eine Freude war. Wie nicht anders zu erwarten war, flachte die Stimmung im Publikum nach wenigen Minuten ab. Die Leute wendeten sich jetzt wieder ihren Gesprächen zu, so dass Alf und der Akkordeonspieler nicht mehr im Mittelpunkt standen.
Dem Akkordeonspieler konnte es egal sein, er wechselte einfach in ein anderes Festzelt, nicht ohne vorher noch etwas Geld von den Anwesenden abkassiert zu haben. Alf seinerseits setzte sich ganz ans Ende einer der langen Holzbänke und nahm erst einmal einen Schoppen Wein zu sich.
Den hatte er sich auch redlich verdient, hatte er doch die Mannschaft wenigstens ein paar Minuten gut unterhalten können. Detzer und ich behielten ihn aus den Augenwinkeln immer im Blick, da wir ihn gut genug kannten, um zu wissen, was nun folgen würde. So plauderten wir geraume Zeit vor uns hin und genossen den Wein, während Alf nach geraumer Zeit urplötzlich einschlief.
Da hing er nun zusammengesunken auf der Bank ohne Rückenlehne, den Kopf im Sitzen leicht geneigt und die Augen geschlossen. Diese Körperhaltung gelang ihm, ohne dass er sich mit den Händen auf der Holzbank abstützen musste. Das schafft ja nun auch nicht jeder. Und obwohl wir 20 m weit entfernt saßen, konnten wir Alf gut erkennen und machten aber keine Anstalten, es ihm ein wenig bequemer zu machen.
Frank-Walter, der ca 5 Meter schräg hinter Alf saß, ignorierte diesen völlig. Ob er es jetzt schon bereute, Alf zu dieser Aktion überhaupt mitgenommen zu haben? Wir wissen es bis heute nicht, zumal sich Frank-Walter seit seiner Pensionierung vor einigen Jahren gar nicht mehr gemeldet hatte. Anders als Detzer übrigens, mit dem ich mich heute immer noch ab und an treffe.
Irgendwann war es an der Zeit, den Rückweg zum Bus anzutreten, um nach Hause zu fahren. Auf die bloße Ansage hin, dass wir jetzt los müssten, standen alle Mitreisenden wie auf ein Kommando auf. Sagte ich alle Mitreisenden? Richtig, der schlafende Alf bekam dies natürlich nicht mit.
Und er saß ganz am Rand der mehrere Meter langen Holzbank. Wie ein nasser Sack stürzte der regungslose Alf auf den Betonboden und rührte sich zunächst nicht mehr. Nicht, dass er sich vorher bewegt hätte.
Sofort war er von mehreren Leuten aus unserer Reisegruppe umringt, die sich um ihn sorgten. Im gleichen Moment setzte sich Frank-Walter erwartungsgemäß Richtung Ausgang in Bewegung, als ob ihm Alf vollkommen unbekannt gewesen wäre. Zur selben Zeit schauten Detzer und ich uns gegenseitig genervt an. Detzer hatte noch vom Riesenrad genug, schüttelte nur kurz den Kopf und stand zwar nach ein paar Sekunden auf, blieb aber in einem gebührenden Sicherheitsabstand stehen.
So war es mir vorbehalten, mich zur Menschentraube um Alf vorzuarbeiten und zu schauen, was so abgeht. Da lag er nun, platt wie ein Fisch auf dem Trockenen und japste nach Luft. Hemd, Gesicht und Haare waren in Schweiß gebadet und seine Brille vollkommen beschlagen, als ob er gerade vom Regen in die Traufe gekommen war. Vollkommen orientierungslos gab er lediglich noch quäkende Laute von sich.
Es konnte kein Zweifel bestehen: Alf litt unter dem Verlust der Muttersprache. Die paar Mitreisenden aus dem Bus, die um ihn herum standen, waren vollkommen konsterniert und wirkten verständlicherweise hilflos, weil diese Reaktion von Alf für einen Außenstehenden vollkommen überraschend und unerklärlich sein musste.
Ich hatte dies bei ihm zwar auch noch nicht so erlebt, doch ich hatte in all den Jahren gelernt, dass bei Alf das Unerwartete zu erwarten ist. Alf stand halt einfach nur unter Schock. Eben noch schlief er selig auf der Bank, im nächsten Moment knallte er auf den Boden. Und beim plötzlichen Wachwerden standen dann noch wildfremde Leute um ihn herum, die ihn anstarrten und auf ihn einredete.

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