Dienstag, 8. März 2022

H. Lecter: Alf

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Das von ihm beschriebene Bild hatte ich genau vor Augen, bekam es nicht aus meinem Schädel. Schockiert war ich nicht, denn ich war von Alf einiges gewohnt. Sportlich sprang ich von dem Waschbecken hinab auf den Boden, als ich zu meiner Verblüffung ein extrem lautes Knacken vernehmen musste.
Entweder war ich zu kraftvoll abgesprungen oder das Waschbecken war nicht richtig in der Wand befestigt gewesen. Irgendwie hing das Becken in der linken Wandhalterung auf halb acht. Ich kümmerte mich nicht weiter darum und ging wieder in den Saal zurück. Alf würde meine Hilfe nicht benötigen, die Wand konnte er gern alleine abwischen.
Witzigerweise schien ihm das Malheur wieder nüchtern gemacht zu haben. Im Saal war die Feier auch ohne uns weiter gegangen. Lediglich die Abteilungsleiterin und IM Spritze blickten auf, als ich aus der Toilette herauskam. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz und bestellte mir ein Bier.
Von den Geschehnissen auf der Toilette erzählte ich nichts, das würden die Kolleginnen sicherlich spätestens am nächsten Tag von IM Spritze persönlich erzählt bekommen. Meine Sicht der Dinge hätte die Damen sowieso nicht interessiert. Allein der Umstand, dass ich auf das Waschbecken gestiegen war, wäre für sie nicht akzeptabel gewesen.
Kurze Zeit später kam auch Alf in den Saal zurück - wie die Unschuld vom Lande. Ich denke schon, dass er die Wand vollständig gesäubert bekommen hat. Nüchtern war er ja schon immer sehr penibel gewesen.
Das Ende der Weihnachtsfeier ist mir nicht im Gedächtnis haften geblieben. Wahrscheinlich war ich hinterher mit meiner Truppe im Blues verschwunden, das KöLudu dürfte nicht mehr auf gehabt haben. Und von Alf hatte ich im weiteren Verlauf der Weihnachtsfeier nichts mehr mitbekommen.
Übrigens sprachen Alf und ich über diese Szene im Nachgang nicht mehr. Ich denke, dass er den ganzen Vorfall noch am selben Abend vergessen hatte. Im Suff warf er ja bekanntlich all seine ansonsten tadellosen Manieren gern mal über Bord.
Wenn ich heute über diesen Abend nachdenke, erstaunt mich, das es damals für mich kein Nachspiel wegen des defekten Waschbeckens gab. Der Täter war wohl nicht ermittelbar gewesen oder IM Spritze hatte vom Waschbecken nichts mitbekommen, so unwahrscheinlich dies auch klingen mag. Also alles gut so weit.
Nichtsdestotrotz bleibt mir von diesem Abend ebenfalls in der Erinnerung, das meine "Truppe" mir keinen Platz freigehalten hatte. Diese Leute waren mir Mitte der 90er Jahre zunehmend wichtiger geworden; Ja, ich überlegte damals sogar ernsthaft, meinen Wohnsitz nach Salzgitter zu verlegen.
Meine Freunde in Braunschweig waren seinerzeit entweder aus Braunschweig fortgezogen oder hatten sich ins Familiäre - Freundin, Kinder, etc. - zurückgezogen. Mit meinem "Rock 'n' Roll" Lebensstil passte ich da nicht mehr zu den Freizeitaktivitäten, die bei meinen Freunden eher auf eine Integration und Karriere im Establishment ausgerichtet war.
Da war ich höchstens noch gefragt gewesen, wenn „Mann“ mal wieder eine Auszeit vom bürgerlichen Leben und den damit verbundenen Pflichten brauchte, sich selbst einreden musste, dass man sich nicht verändert hatte. Ausnahmen bei dem einen oder anderen Freund bestätigten auch damals schon die Regel.
In Braunschweig hatte ich es, wenn überhaupt, lediglich noch mit Freizeit Rock 'n' Rollern zu tun. Die wenigen Konzerte, welche meine alten Freunde und ich damals aufsuchten, verbrachten wir in der Regel besoffen und maximal müde mit den Füßen wippend zu unseren alten Helden.
Wie wohltuend waren dagegen die Aktionen mit den Salzgitteranern. Egal ob mit Mike und Konsorten, oder am Ende des Jahrzehnts mit Max, Moritz und Buck: Zusammen waren wir "Außer Rand und Band", um mal wieder an den sehenswerten Film von 1956 mit Bill Haley zu erinnern.
Die Aktionen mit diesen Kollegas waren häufig vogelwild, obwohl diese Menschen ja eher Schlager als Rockmusik hörten. Und Alf war zumeist immer mit vorne dabei gewesen, Hut ab für seine damalige Leistung. Bei dieser Weihnachtsfeier jedoch ahnte ich aufgrund des scheinbaren Desinteresses von Mike & Co., dass mein Lebensstil offenbar zunehmend ein Auslaufmodell war.
Der Raketenbauer war nicht mehr en Vogue, mehr und mehr verbrachte ich meine Abende allein zu Hause und zugedampft an der Nintendo Konsole. Dabei drohte ich den Anschluss zu verlieren. Emotional extrem labil, war ich für viele Menschen in meinem Umfeld nicht mehr tragbar. Erst als ich im Jahr 2000 die Raketen abgerüstet hatte, fand ich wieder Aufnahme in meine damaligen Netzwerke, die zwar nie zerstört, jedoch stark belastet waren.
Nur zu Mike und Co war das Tischtuch zerschnitten, das hatte ich selbst voll benebelt noch mitbekommen. Diese Kontakte wurden nach und nach immer seltener, wir hatten uns entfremdet, weil auch bei diesen Leuten die „Jugend“ vorbei war.
Wenigstens waren mir noch die alten Freunde aus der Zeit vor Salzgitter geblieben, die dann irgendwie doch trotz vieler Widrigkeiten zu mir gehalten hatten. Bei dem einen oder anderen kam sicherlich noch erschwerend hinzu, dass ihr Versuch der Integration in die bürgerliche Gesellschaft krachend gescheitert war.

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