Dienstag, 8. Januar 2019

H Lecter: Viktor


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Erst als der erste “Polizist” auf den Sprungturm kletterte und ins kühle Nass sprang, beruhigte sich mein Puls wieder. Meine Güte, das waren Studenten beim nächtlichen Besuch des örtlichen Schwimmbades! Wie wir anschließend beim gemeinsamen Sit-In mit der Mannschaft feststellen konnten, hatten diese uns ebenfalls für die Polizei gehalten und sich deshalb so geräuscharm wie nur möglich bewegt. Nach dem gemeinschaftlichen Leeren einiger Biere und natürlich der obligatorischen Friedenspfeife bzw. Großraumzigarette verabschiedeten wir uns voneinander.
Wie leicht wir uns ins Bockshorn jagen ließen! Nun gut, wenigstens zeigten wir genügend Schuldbewusstsein, um zu erkennen, dass man des Nächtens nicht so einfach ins öffentliche (zu der Tageszeit natürlich nicht) Schwimmbad einbrechen sollte. Ich würde sagen, heutzutage würde ich das niemals nicht machen. Ich würde beim nächtlichen Schwimmbadbesuch keine Großraumzigaretten mehr rauchen, denn das Zeug macht paranoid.
Nach dieser Aufregung gingen wir wohl noch aufgekratzt, aber immer mehr müde in die Wohnung von Viktor, Tesla und Aki-Bua zurück. Pocke und ich wollten dort vor der Rückfahrt nach Braunschweig unseren Rausch ausschlafen. Doch bevor wir uns hinlegten, verschwand Pocke im Badezimmer und unter der Dusche.
Wie sich herausstellte, war sein Fuß grün und blau angelaufen. Dazu verspürte er einen stechenden Schmerz, den er die ganze Zeit seit seiner Begegnung mit dem Grabstein nicht empfunden hatte. Da war er sicherlich zu breit und euphorisch ob der schönen Aktion gewesen, so dass er nichts gemerkt hatte.
Dies war der Moment, in dem sich Viktor geistesgegenwärtig zeigte. Er ergriff die Initiative, hing sich ans Telefon und sprach mit der Notaufnahme der Uniklinik. Kurze Zeit später schnappte er sich Pocke und fuhr in die Klinik. Wir anderen waren zu lethargisch gewesen, das muss ich leider konstatieren.
Stumpf saßen wir noch in der Wohnung herum und soffen weiter, als ob Pocke und Viktor nur mal so eben losgefahren wären, um einen Nachschub an Bier zu organisieren. Zu unserer großen Erleichterung kamen die beiden irgendwann zurück.
Pocke hatte einen frisch gezogen Gehgips an seinem linken Bein angelegt bekommen. Der Unterschenkel war gleich mit eingegipst worden und vorne schauten die Zehen heraus. Das Jod gab seinen Zehen noch eine interessante Färbung - so in etwa wie Nikotinfinger.
Pocke konnte aber schon wieder scherzen und vor allen Dingen noch ein Pils vertragen. In der seligen Runde kam irgend einer noch auf die glorreiche Idee, dass wir doch unsere Genesungswünsche auf den Gips schreiben könnten. So geschah es dann auch. Dann endlich war es Zeit für die Nachtruhe.
Vom nächsten Tag weiß ich noch, dass Pocke und ich im Laufe des Tages nach Hause gefahren sind. Wie Pocke mit dem Gehgips diesen grünen Renault 5 seiner Mutter nach Braunschweig zurück kutschiert hatte... Mann Oh Mann. Aber Pocke wollte mich nicht fahren lassen, weil das schließlich der Wagen seiner Mutter war. Er fühlte sich fahrtauglich und wir sind denn ja auch unfallfrei und ohne Probleme in Braunschweig angekommen.
Dieses Erlebnis hatte zugegebenerweise Viktor nicht zum Hauptakteur, sondern Pocke. Aber hier wird wieder deutlich, dass Viktor trotz aller kritikwürdigen Charaktereigenschaften (und wer hat die nicht...) ein Standing im Bereich des Gemeinsinns aufweisen konnte. Er kümmerte sich in Göttingen um Pocke wie auch später um Edith und dann auch Jürgen. Speziell für Edith war er da, als sie einen Freund brauchte.
Das meine ich hier und jetzt auch so. Anders als beim Camping nahe des Tankum Sees verhielt er sich ihr gegenüber wie ein Gentleman. Viktor kann ich nur als vielschichtigen Charakter bezeichnen und ich bin traurig, dass er von uns gegangen ist. Leider waren meine Versuche in den letzten Jahren, mit ihm näher in Kontakt zu treten, nicht vom Erfolg gekrönt.
Auch deshalb war ich nicht auf seiner Beerdigung. Vielleicht war das ja doch ein Fehler, vielleicht aber auch nicht. Da habe ich nach wie vor zwiespältige Gefühle zu. Wie merkwürdig das Leben doch so ist. Auf meinem 50. Geburtstag war er noch da gewesen. Witzigerweise war Viktor 1999 der erste Anrufer in meiner damals neuen Wohnung in der Gartenstrasse. Zu jenem Zeitpunkt hatte ich bereits 15 (!) Jahre nichts mehr von ihm gehört gehabt.
Allein das zeigt, das er doch irgendwie in mein Leben gehört(e). Machs gut, Viktor. Wir sehen uns am Tankum See.

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