Sonntag, 23. September 2018

Hartmudo: Mutter

32
Einen möglichen Termin für den Wohnungsflohmarkt fanden wir zügig nach Durchsicht in unseren Terminkalendern. Es würde der 26. November, also übernächsten Samstag, sein. Ich war in diesem Moment richtig gut drauf. Wir hatten für jeden der nàchsten Schritte Lösungen erarbeitet, mit denen wir alle leben konnten. Meine ursprüngliche Befürchtung, dass wir uns an Ort und Stelle gegenseitig zerfleischen würden, hatte sich zum Glück nicht bewahrheitet. Ruhig und sachlich hatten wir uns geeinigt und persönliche Befindlichkeiten hinten angestellt. Das schafft nicht jede Familie. Da war ich richtiggehend erleichtert.
Gerade wollte ich aufstehen und mich von den anwesenden Sunny, Reiner und Berta verabschieden, um meine Löwin anzurufen und sie zum Essen mit dem Butler Bonusheft einzuladen, da schaltete sich Reiner noch einmal ein. Er wandte sich an seine Frau Sunny. Ob sie denn nicht noch etwas fragen wollte? Mit zusammengekniffenen Lippen blickte Sunny starr geradeaus, blieb aber stumm.
„DU wolltest doch unbedingt noch was los werden," polterte Reiner lautstark herum. „Und jetzt kriegst Du den Mund nicht auf! Nun sag es doch endlich mal, meine Güte!"
Meine leicht beschwingte Stimmung erhielt einen empfindlichen Dämpfer und drohte zu kippen; Sunny, von Reiner derart aufgestachelt, traute sich jetzt. Sie begann mit schon heller Stimme, die sie kurz darauf noch ins Schrille zu steigern wußte. „Was hast Du denn da alles mit nach Hause genommen, Berta?"
„Na, den Schmuck, der hier war," antwortete die sichtlich irritierte Berta mit gerunzelter Stirn. „Der steht bei mir zu Hause in Kisten. Ich habe da nicht hineingeschaut, habe das einfach ungesehen in mein Arbeitszimmer gestellt." Hier rechtfertigte sich Berta unnötigerweise, weil sie gleich dazu betonte, das sie den Schmuck nicht angefaßt hätte. Dies war für Sunny eine willkommene Steilvorlage, jetzt brachen bei ihr alle Dämme.
„Ach nee, und wo sind die silbernen Teller, die hier standen?" Sunny war aufgesprungen und zeigte auf eine Stelle in Mutters Wohnzimmerschrank, wo die ominösen Silberteller vorher wohl gestanden hatten. In ihrer Gestik, Mimik - ja auch in ihrer schrillen Stimme wirkte Sunny auf mich wie Rumpelstilzchen. Ich war vollkommen überrascht ob dieser unerwarteten Wendung des Geschehens und blieb stumm.
„Ja, stimmt. Die habe ich da auch zuhause mit dem Schmuck stehen. Ich habe die Sachen nicht weiter angefaßt." Berta war wie vor den Kopf geschlagen und kratzte sich nachdenklich an der Stirn. Diese defensive, ja unterwürfig wirkende Geste befeuerte Sunny nur noch mehr. Berta war anzusehen, das sie sich wie ein unschuldiges Kind fühlte, das vom Lehrer gemaßregelt wurde.
Sunny war inzwischen die paar Meter bis zur Zimmertür geeilt. Sie sah jetzt nicht nur aus wie eine Hexe, sie keifte auch so. Lediglich der Besen fehlte. „Und was ist mit der Tasche? Hier stand eine schwarze Abendhandtasche, mit Strass besetzt. Und was ist mit den Sparbüchern passiert, die da drin waren?" Wie wild gestikulierte die mittlerweile schreiende Sunny auf den Boden vor Vaters altem Schränkchen.
„Was für eine Abendhandtasche?" fragte Berta, sichtlich irritiert. „Da war keine Tasche, ich habe keine Tasche. Alle Sachen stehen bei mir im Arbeitszimmer, vielleicht ist die Tasche dabei, ich weiß es nicht. Ich habe die Sachen dort nur hingestellt und nicht angefaßt. Da war keine Tasche dabei..." Berta sprach jetzt mit gebrochener Stimme, auf diesen Angriff von Sunny war sie nun wirklich nicht vorbereitet.
Zeit für Reiner, den wir in glücklicheren Zeiten „Turr-bo" nannten, um seinen theaterreifen Auftritt hinzulegen. Wie in einer billigen Schmierenkomödie stand er auf und stieß mit zitterndem und vorgestrecktem Zeigefinger in Richtung Berta. „Und Dir traue ich sowieso nicht mehr!"
Berta sprang auf und lief an Reiner vorbei Richtung Zimmertür, ich sage nur: Last Exit Melverode. „Das lasse ich mir von Dir nicht sagen," entgegnete Berta mit auf einmal fester Stimme. „Von Dir nicht!" Da war ich mächtig stolz auf meine Schwester Berta, das war eine richtig souveräne Aktion. Und noch immer blieb ich selber stumm, weil ich die Situation nicht noch weiter eskalieren lassen wollte oder weil ich zu konsterniert, oder gar zu feige war? Heute glaube ich, das ich mich da schon längst hätte einklinken müssen.
Und Reiner trat das Gaspedal komplett durch, wie in einer Shakespeare Aufführung des Schultheaters drehte er sich um und rief der davoneilenden Berta hinterher, die Hand locker in die imaginäre Ferne schwingend. „Ja, hau Du nur ab. Das ist wieder mal typisch, jetzt kneifst Du. Wer abhaut, setzt sich ins Unrecht!"
So ein Schmarrn. Das war ja mein Startsignal, zumal sich Reiner und Sunny quasi gegenseitig die Bälle zuspielten. Es blieb die schon gewohnt gleiche Leier. Sunny beklagte, wie mittlerweile üblich, dass sie von uns nicht informiert wurde, als Berta auf meinen Rat hin die Wertsachen aus Mutters Wohnung holte, weil der Termin der Trauerfeier in der Zeitung dank einer von uns geschalteten Anzeige angekündigt war. Aufmerksame Zuschauer von „Nepper, Schlepper, Bauernfänger" wissen Bescheid, für die Anderen: Da gibt es richtige Banden aus dem Südosten Europas, die sich auf Wohnungseinbrüche während Beerdigungen spezialisiert haben.
Sicher wäre es angezeigt gewesen, Sunny davon gleich zu informieren. Doch ich hatte dies mit Berta erst am Tag vorher, einem Donnerstag, besprochen. Von meinem Büro aus rief ich Berta überhastet an, die einen Tag vor der Trauerfeier auch andere Sachen im Kopf hatte, als noch schnell zu Mutters Wohnung zu fahren, um die Wertsachen zu sichern. Da ich allerdings auf der Arbeit auch viel zu tun, vor allem aber kein Auto hatte, musste Berta wohl oder übel los. An Sunny dachte ich da von vornherein nicht, da sie bekanntlich auch arbeitet (2 Stunden Vormittags beim Bauern) und in der Vergangenheit bislang immer sauer reagiert hatte, wenn sie da einen Termin wegen ihrer Mutter absagen musste.
Berta war auf die Ansage von Reiner hin doch nicht aus dem Zimmer gestürmt, wie schon seit geraumer Zeit schaute sie mich mit ungläubigen Blick an. Die Attacke von Sunny und Reiner traf sie vollkommen unvorbereitet. Und wo ich vorher nur mit offener Kinnlade fassungslos auf meinem Hintern saß (was ist hier los?, dachte ich nur), stand ich endlich auf und griff in das turbulente Treiben ein.
Als Erstes erklärte ich der zeternden Sunny sogar noch, dass es mir leid tut, dass ich es versäumt hatte, sie zu informieren. Denn das hatte ich nun wirklich vergessen, ich kann schließlich nicht an alles denken. Viel zu tun oder nicht, Sunny hätte ich schon mal anrufen können.
Jedoch war ich schon durch die letzten Monate wegen Mutter und dem ganzen Hustle angespannt gewesen, außerdem passieren noch andere Sachen in meinem wie auch meiner Löwin's Leben, die erhebliche Aufmerksamkeit erfordern. Aber so was zählt für Sunny in keinster Weise, da sie sich wie immer schon benachteiligt fühlte.
Jedenfalls ist es bei intakten Familienverhältnissen üblich, dass Familienmitglieder untereinander Verständnis aufbringen. Das man da in der Hast des Lebens auch mal Fehler macht, sollte meine Sestra eigentlich verstehen. Und ich Idiot entschuldigte mich noch - was brauchte Sunny denn noch, um ihren Bruder zu verstehen?
Reiner, dessen Gesichtsfarbe ich nur als purpurn beschreiben kann, faselte dann noch irgendetwas, dass man die Wertsachen einer Verstorbenen nicht einfach so beiseite schafft. Das würde sich nicht gehören, das haben auch „Andere" gesagt. Sunny souflierte hierzu zwischendurch immer wieder dieselbe Leier. Wer von beiden da was genau gesagt hatte, weiß ich nicht mehr. Als ob Berta (und ich!) Sunny bestohlen hätten! Meine Güte, war das Ganze abartig. Die beiden waren ja vollkommen durchgeknallt.
Zumal ich dank des lauten Gebrülls der beiden selber sehr schnell auf Betriebstemperatur kam. „Was irgendwelche Arschlöcher sagen, interessiert mich nicht!" Diese asoziale Ausdrucksweise kam mir unwillkürlich über die Lippen, weil ich jetzt so richtig genervt war, da heißt es, Kante zu zeigen. Wehe, wenn er losgelassen.
Nur unwesentlich leiser erinnerte ich Reiner und Sunny daran, das Mutter bereits auf dem Totenbett im Heim beklaut wurde. Und das es Diebesbanden gibt, die sich auf das Ausräumen leerer Wohnung anlässlich von Familienfeiern spezialisiert haben, sollten selbst Sunny und Reiner in ihrer Dorfidylle mitbekommen haben.
Aber nein, es war zwecklos. Wir brüllten uns gegenseitig an, ohne das irgendjemand von uns bereit war, dem anderen zuzuhören, geschweige denn einzulenken. Sunny ritt die ganze Zeit auf dieser Strasstasche herum, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Auch Berta verstand da nur Bahnhof. Da sollten sogar noch Sparbücher drin gewesen sein! Woher sie das wohl wusste...

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