Samstag, 23. Dezember 2017

Hartmudo Spezial: Mutter

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Meine Stimmungslage am Tag nach dem Tode meiner Mutter war weder niedergeschlagen noch traurig, obwohl ich ja arbeiten durfte. Schließlich kam ihr Tod nicht urplötzlich und wir alle hatten ausreichend Zeit, uns an den Gedanken zu gewöhnen, dass Mutter nicht mehr unter uns Irdischen weilen würde.
Dem Bestattungsinstitut hatte ich auf Nachfrage am Sonntag meine Emailadresse von der Arbeit gegeben. Und tatsächlich hatte ich den am selben Abend ausgearbeiteten und mit Berta wie Sunny abgesprochenen oder abgesegneten Text sofort an das Bestattungsinstitut geschickt. Und schon am Montagmorgen kam die prompte Antwort auf meinem Bildschirm im Büro. Die Anzeige sah in Ordnung aus, der Bestatter konnte sie so getrost an die Braunschweiger Zeitung geben.
Nur zwischendurch: Es kann auch sein, dass der Bestatter mir seinen Vorschlag einer Anzeige schickte und ich diesen dann mit Berta und Sunny telefonisch durchsprach. So genau erinnere ich mich nicht mehr, aber es ist wohl auch nicht wirklich kriegsentscheidend für das sich anbahnende Desaster gewesen.
Die wichtige Information des Tages aber war der vom Bestatter mitgeteilte Termin der Trauerfeier. Diese würde am Freitag, dem 30. Oktober um 12.00 Uhr in der Nikolaikirche in Melverode stattfinden. Donnerkiesel, dachte ich nur. Exakt eine Woche nach der Feier für Jopi's Vater, in genau derselben Kirche.
Manchmal schreibt das Leben merkwürdige Verbindungen. Denn am Tag der Trauerfeier für Jopi's Mutter hatten meine Löwin und ich vor 9 Jahren geheiratet. Und auch anlässlich des Todes von Jopi's Vater gibt es jetzt eine Verbindung zu meiner Familie. Besser gesagt zu mir, denn Familie.... Aber ich will nicht vorgreifen.
Mit meinen Schwestern war ich mir einig, das wir nach der Kirche den Trauergästen auch einen Imbiss anbieten wollten. Da das „Bistro Helena" in der Vorwoche nicht so toll abgeschnitten hatte, weil der Service eher etwas lustlos war, brauchten wir eine Alternative. Zum Glück wusste Patti, die ich am Sonntagabend wegen des Helena noch einmal kontaktiert hatte, eine Alternative.
Das La Vita im Melveroder Einkaufszentrum, in dem ich vor dem Gespräch bei Mutters Hausarzt schnell zum Pinkeln war. Patti und Pocke waren da wohl mit Pockes Eltern zum Essen gewesen und es sollte empfehlenswert sein. Also rief ich den Laden am frühen Abend an und vereinbarte einen Gesprächstermin für Dienstagabend. Wir brauchten Platz für ca. 20 Leute, das hatten wir unter uns Geschwistern schon geklärt.
Weil Berta oder Sunny einen Termin beim Pastor, der auch die Andacht halten würde, für den Dienstag um 16.30 Uhr vereinbart hatte, würde meine Löwin nach dem Gespräch hinzustoßen, um mit mir im La Vita zu essen. Meine Schwestern wollten leider nicht mit; ich sollte den Termin zum Imbiss im La Vita nach der Kirche mit ihrem Einverständnis buchen. Da die Pfarrei in der Bonhoefferkirche und die Pizzeria quasi gegenüber liegen, passte sich das für die Termine am nächsten Tag ganz gut.
Am besagten Dienstag machte ich eine Stunde früher Feierabend und schaute schon mal im La Vita vorbei. Ich hatte noch etwas Zeit, um in meinem Buch weiter zu lesen und noch einen Latte Macchiato zu schlürfen. Der russische (?) Betreiber der Pizzeria bediente mich höflich und ruhig. Er sagte mir, wir würden uns am Abend in Ruhe über den Trauerimbiss unterhalten können. So seine Ansage, ich war auch sofort von seiner Professionalität begeistert, zumal der Laden einen sehr gemütlichen Eindruck machte.
Kurz vor halb Fünf ging ich dann Richtung Dietrich Bonhoeffer Kirche, das große Gotteshaus gegenüber dem Einkaufszentrum. Auf den Weg traf ich auf Berta und Sunny, die bereits auf der anderen Seite in Richtung Büro des Pastors gingen. Nun würden wir also mit dem Pastor über unsere Mutter sprechen, so dass der Pastor eine schöne Trauerrede halten kann, die etwas über das Leben und Wirken unserer Mutter aussagt.
Wir klingelten an der Tür zum Büro, welche in einem Anbau zur Kirche untergebracht ist. Der vollbärtige Pastor, ungefähr in meinem Alter, öffnete nach einiger Wartezeit und blickte uns beim Begrüßen unverbindlich wie freundlich lächelnd an, wie Pastoren das nun mal so tun. Beim Gang in sein Büro fiel mir auf, das er rechtsseitig hinkte, wohl eine Knieverletzung.
Nach dem Setzen im Büro klärten wir kurz das Formelle für die Trauerfeier in 3 Tagen. Wie der Sarg aufgebahrt wird, daneben ein Foto von Mutter als Aufsteller und dass wir noch Rosen auf das Tuch vorm Altar mit den Kränzen und dem Sarg und dem Foto legen wollten.
Ich kannte das schon von der Trauerfeier letzte Woche für Jopi's Vater und sagte das dem Pastor auch, doch der ignorierte meinen Einwurf und kommentierte es auch nicht. Datenschutz, nehme ich mal an. Überhaupt wirkte der Pastor auf mich etwas emotionslos, man könnte auch sagen geschäftsmäßig. Seine Anteilnahme wirkte dadurch etwas aufgesetzt, aber das ist o.k., weil mehr Gefühl seinerseits wäre auch unehrlich gewesen, er kannte sie ja kaum.
Denn wenn er sie wirklich gekannt hätte... Aber lassen wir das, er kannte sie schon aus dem Altenkreises der Kirchengemeinde, zu dem sie Mittwochs immer ging. Dort erzählte sie laut dem Pastor nicht viel, blieb eher still und hörte zu. Wenn sie etwas zu erzählen hatte, dann von ihren Reisen. Da leuchteten wohl ihre Augen, denn das war ihre große Leidenschaft, wie der Pastor betonte.
Spätestens seit den 80er Jahren war das meiner Ansicht nach Mutters einzige Leidenschaft, von ihrer Zuneigung zu Walter einmal abgesehen. Das Verhältnis zu meinem Vater war bis zu dessen Tod wohl eher nüchtern gewesen. Ein einziges Mal hatte ich zwischen meinen Eltern Anfang der 90er, kurz vor Vaters Tod, so etwas wie Emotionen verspürt. Als Mutter mit gebrochenem Bein im Krankenhaus lag und ich mit Vater im Biergarten des Gambit gesessen hatte, meiner damaligen Stammkneipe gegenüber meiner Wohnung, und mich mit ihm vor unserem Besuch bei Mutter im Krankenhaus unterhalten hatte.
Wie liebevoll er von ihr sprach und dann hinterher am Krankenbett auch mit ihr umging. An diesem Tag erkannte ich nach all den Jahren: Vater hatte Mutter wirklich geliebt, auch wenn er ansonsten zumeist über sie und mit ihr geschimpft hatte. Umgekehrt würde ich das nicht unterschreiben wollen, die Jahre nach Vaters Tod und ihre wenigen Aussagen zu ihrem Ehemann bringen mich zu dieser Erkenntnis. Als Krönung hierbei fällt mir ihr Spruch nach zwei oder drei Gläsern Wein bei Sunny vor bald 20 Jahren ein: „Ich habe Eurem Vater den Orgasmus immer nur vorgespielt."
Dies hatte ich dem Pastor natürlich nicht erzählt, als er uns nach dem Leben unserer Mutter befragte, um Stoff für seine Trauerrede zu erhalten. Drei dieser Stories, die ich dann erzählte, nahm er hinterher auch in die Trauerrede auf. Wie sich Vater und Mutter kennenlernten, die widrigen Umstände ihrer Hochzeit (hier konnte Berta auch etwas beisteuern) und etwas aus Vaters Zeit in der Kriegsgefangenschaft.
Ich erzählte dem Pastor sogar die Story über die Reise nach New York von Mutter mit Walter, um ihm die Pfiffigkeit unserer Mutter zu verdeutlichen. Die beiden alten Herrschaften buchten den Flug für den 11.9.2002, also exakt 1 Jahr nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center. Dieser Flug war extrem preiswert, weil alle Leute Schiss vor einem weiteren Anschlag hatten. Der Pastor fand diese Geschichte für seine Predigt ungeeignet, schaffte es dennoch beinahe, sein großes Missgefallen ob dieser Geschichte zu verbergen.
Während des Gesprächs mit dem Pastor wirkte Sunny auf mich merkwürdig still und in sich versunken. Ob sie das alles so mitnahm? Wie ich jedoch später von Berta erfuhr, hatte Berta sie sich wegen des Telefonats beim Hausarzt nochmal zur Brust genommen. Sie solle nicht so ausrasten und sich „wieder einkriegen". Das war demnach der Grund gewesen und nichts anderes.
Aber eines steuerte Sunny zum Gespräch doch noch bei. Das war ein Musikwunsch, der nach Meinung von uns allen in Mutters Sinn gewesen wäre. „La Vie en Rose" von Edith Piaf, möglichst in Deutsch. Berta erzählte abschließend noch viel von den 50er Jahren und später, so das sich anschließend ein rundes Bild ergab, mit dem der Pastor arbeiten konnte. Zum Schluss bat er uns noch, frühestens 10 Minuten vor Beginn der Trauerfeier vor der Nikolaikirche zu erscheinen, weil die Emotionen sonst überschlagen könnten. Auf Deutsch: Hebt Euch Eure Tränen für den Gottesdienst auf.

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