Montag, 8. Februar 2021

H. Lecter: Alf

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Während ich all die Geschichten um und mit Alf niederschreibe, bin ich immer wieder erstaunt über die große Anzahl an Begebenheiten, die mir da heute noch einfallen. Wir reden hier fast ausschließlich über die 90er Jahre, weniger über die „Nuller“. Über die gewiss nicht weniger schrillen Stories aus meinen Zügen mit Freunden durch die Braunschweiger Bars und Kneipen seit den 80ern oder die vielen erlebten Konzerte wüsste ich wohl nicht so umfangreich zu berichten.
Jetzt ist es endlich an der Zeit, den Alt68er zu erwähnen. Dieser war mit einer Inderin aus einer der obersten Kasten verheiratet und hatte 3 Kinder. Er selbst hatte nach seinem Studium der Sozialpädagogik ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche auf Malaysia betreut und war lange Jahre Leiter eines von der Stadt betriebenen Jugendclubs in Salzgitter, in dem (in späteren Jahren) eine Menge Punkkonzerte liefen.
Als ich den Alt68er im Verlauf der 90er Jahre kennenlernte, war er nicht mehr Leiter dieses Jugendclubs, sondern war zur Bezirkssozialarbeit im Sozialamt verdonnert worden. Seinen Posten räumte er wohl nicht freiwillig. Auch er soff wie ein Loch, war in den einschlägigen Kneipen (Blubber, Jazzgalerie) bekannt wie ein bunter Hund.
Da ist es schon erstaunlich, dass mir da nur die eine folgende Story mit Alf und dem Alt68er einfällt. Sie bewegten sich halt in verschiedenen Szenerien. Die Szene vom Alt68er war ja eigentlich auch meine, aber in jenen Jahren war ich in beiden (Country UND Western) zu Haus, wobei mir die Malle- und Grannifraktion in jenen Jahren lieber war als meine heimische Alternativszene aus Braunschweig, da diese sich seinerzeit nur noch selbst zerstörte und dogmatisch alle „Normalos“ verteufelte.
Aber egal jetzt. Irgendwie kamen Alf, Mike, der Alt68er und ich wohl im „Köludu“ zusammen und arbeiteten uns an dem dunklen Gerstensaft ab. Ich nur in Spurenelementen, da ich als Fahrer fungierte. Wie es dazu kam, weiß ich nicht mehr, aber aus der allgemein ausgelassen guten Stimmung heraus fassten wir den Entschluss, Alf nach Hause zu fahren und auf dem Weg dorthin noch einen kleinen Absacker in Alfs Stammrevier zu nehmen. Also zwängten wir uns in meinen Fiat Panda und fuhren los.
Die Gartenkantine des Kleingartenvereins Immergrün liegt stadtauswärts auf der rechten Seite der Ludwig-Erhardt-Straße. Gegenüber der Krähenriede führt ein leicht übersehbarer und verschlungener Stichweg durchs Gebüsch auf den Parkplatz vor diese Hütte, die der vollkommen überdrehte Alf uns unbedingt zeigen musste.
Überschwänglich stürmte er in den Gastraum und begrüßte die Anwesenden mit all seiner Herzlichkeit, die Alf während der ersten Drinks zu Eigen war. Ab einem gewissen Pegel pflegte Alf dann übermütig zu werden; seine Lebensfreude schien dann grenzenlos. Und auch dieses Mal enttäuschte er uns in dieser Hinsicht nicht.
„Und jetzt mitsingen! Alle!“ Überschäumend vor Freude, dirigierte Alf zur im Hintergrund laufenden Schlagermusik und versuchte vergeblich einen älteren Herrn, der an der Theke einfach nur in Ruhe sein Bier und einen Korn trinken wollte, zu animieren.
„Sing jetzt mit! Los!“ Alf holte doch tatsächlich einen 10 DM Schein aus seinem schwarzen Portemonnaie und schmiss denselben vor dem Mann auf den Tresen. Der strich den Schein ein, sang mit Alf ein wenig mit und wackelte kurz mit den erhobenen Armen (…und dann die Hände… zum Himmel…), bevor er sich wieder auf Bier und Korn konzentrierte.
Während Mike und ich uns am Nebentisch vor Lachen nicht mehr einkriegten – wir kannten Alf ja zur Genüge, brach in dem Alt68er der Sozialarbeiter durch. Er setzte sich neben Alf an die Theke und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
„Alf, Du sollst doch nicht immer so viel trinken. Das tut Dir gar nicht gut.“ Mit diesen und noch vielen weiteren Worten versuchte der Alt68er Alf zu überzeugen, den Fuß quasi vom Gas zu nehmen, bevor er sich noch mehr blamierte. Und wie die beiden da so an der Theke saßen – einer straffer als der Andere – da feixten Mike und ich erst so richtig drauf los.
Dass ausgerechnet der Alt68er Alf eine Moralpredigt hielt, war bei seinem Ruf mehr als ungewöhnlich. Da hatte sich der Alt68er quasi vom Bock zum Gärtner gemacht. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden bestand hauptsächlich aus ihren Lieblingsgetränken. Der Alt68er trank fast ausschließlich Bier, dies aber in der Sechs Liter Klasse. Für Alf war nach 2 Bieren zumeist Schluss, dann kamen die Mischungen dran, bis er dort einschlief, wo er sich gerade befand.
So nuschelten die Beiden an der Theke so vor sich hin und Alf beruhigte sich wieder. Niemand musste mehr mitsingen, alles gut also. Bis zu dem Moment, als die Tür aufging und eine Schar pubertierender Teenager in die Gartenkantine stürmten und sich sofort an die nächstbesten Tische setzten.
Als Letzter betrat der Lehrer den Gastraum und erblickte Alf im selben Augenblick. „Oh, nein! Nicht der schon wieder!“ rief er gequält aus. Und es waren wirklich genau diese Worte, dieses Bild… sein gequältes Gesicht… hat sich bis heute unsterblich in mein Gedächtnis eingebrannt.

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