Freitag, 9. Oktober 2020

Contramann: Nachdenken angesagt 1/2

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https://www.heise.de/tp/features/Die-Zukunft-der-Arbeit-heisst-Home-Office-4921110.html
Der Autor Gerrit Wustmann schein ein Befürworter des Home Office zu sein und sieht fast nur Vorteile. Obwohl ich seine Ansichten für vollkommen falsch halte und seinen Artikel im Folgenden zerpflücken werde, möchte ich anmerken, dass Wustmann zumindest einige negative Aspekte erkannt hat. Hierzu zählen Schwierigkeiten für Leute mit schlechter Selbstorganisation. Aber auch Menschen, die eine klare Trennung von Beruf und Freizeit bevorzugen, werden mit einem Office nicht viel anfangen können.
Der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hatte jetzt eine Reform angestoßen, nach der Arbeitnehmer ein Anrecht auf 24 Tage Home Office im Jahr beanspruchen können. Natürlich nur dann, wenn dies auch machbar ist (also, grob gesagt, in Büroberufen) und keine betrieblichen Gründe entgegenstehen. So weit, so gut. Viele Leute sind dank Corona im Home Office gelandet und damit sehr zufrieden, da war dieser populistische Vorstoß des Ministers zu erwarten und ist meiner Meinung nach auch gerechtfertigt.
In meinem persönlichen Umfeld erlebe ich nur Leute, die mit der neu gewonnenen Freiheit im Home Office dank Corona glücklich sind. Alle von Wustmann beschriebenen Vorteile erleben diese Menschen auch und würden den Artikel zu 100% unterschreiben können. Jedoch sind diese Leute zum einen um die 60, stehen also kurz vor der Rente und sind dauerhaft im Home Office. Da könnte man auch böswillig unterstellen, dass der Arbeitgeber diese Menschen eh lieber gestern als morgen in Rente schicken möchte. Die sind dann quasi abgemeldet und stören den Betriebsablauf nicht mehr. Und das ist ihnen natürlich egal, da sie eh keine Karrierepläner mehr hegen und selbst einfach nur das Geld abgreifen wollen. Die Motivation ist hier nicht mehr sehr hoch; da würde ich mich gerne einreihen, aber leider ist es in der Sozialverwaltung des öffentlichen Dienstes mit Home Office nicht weit her.
Zum anderen kenne ich jüngere Leute von Mitte 30 bis Mitte 40, die arbeitstechnisch noch voll im Saft stehen und beruflich noch was reißen wollen. Die können mit einigen Tagen Home Office sehr gut leben und teilen viele Argumente von Wustmann. Jedoch möchten diese Menschen private Kontakte nicht missen; das Netzwerken ist für diese Menschen essenziell. Denn wenn man nur zu Hause „hockt“, ist man schnell abgehängt und das war es dann mit der Karriere.
Ich erzähle dies so ausführlich, weil ich den 38jährigen Wustmann einschätzen wollte. Als Journalist funktioniert bei ihm das Netzwerken sicherlich nicht im Büro, sondern über andere Kanäle, die nichts mit Arbeiten in einem Bürogebäude oder Home Office als Alternative zu tun haben. Ich will damit sagen, dass Wustmanns Ansichten wohl nichts mit eigenen beruflichen Erfahrungen im Bürobereich zu tun haben. Ich kann mich allerdings auch täuschen, aber egal.
Beginnen möchte ich mit einer typischen These aus dem Artikel: „Und wer nicht zigmal am Tag von Smalltalk oder sinnfreien Meetings von der eigentlichen Arbeit abgehalten wird, der wird schneller fertig und hat in der Folge mehr Freizeit, was wiederum die Zufriedenheit hebt.“
Meine böse Gegenthese: Wer nicht von Smalltalk oder Meetings, mögen diese auch noch so nervig sein, von der Arbeit für einige Momente herausgerissen wird, lässt mit der Zeit entweder im Arbeitstempo nach, was auch nicht unbedingt die Zufriedenheit steigert, oder hat mehr Zeit, Löcher in die Luft zu starren, worin manche durchaus einen Ansatz von Transzendenz erkennen mögen, andere dagegen eher von Gehirnerweichung sprechen.
Nun kann man im Home Office sicherlich entstandene Freiräume nutzbringend verbringen. Wäsche waschen, Bügeln oder gar den Garten umgraben. Das liegt sicher drin, ohne dass die Arbeitsleistung leiden muss. Es ist ja auch nichts dagegen einzuwenden, solche Tätigkeiten einzuschieben, die man früher erst nach Feierabend machen konnte. Nur… was macht man dann, wenn es wieder Feierabend ist?
Dieser „Feierabend“ wäre dann sicherlich kürzer als früher – was bei einigen schon allein deshalb (unberechtigterweise) zu verminderten Glücksgefühlen führen dürfte. In diesem Fall wäre nichts gewonnen. Hat man allerdings effektiv Zeit gewonnen, weil der „Feierabend“ sogar noch länger ist, zumal ja auch die lästige Fahrzeit zum Büro und anschließend nach Hause wegfällt, dann steigt natürlich die Zufriedenheit und Wustmann hätte Recht.
Stellen wir uns das mal kurz vor: Sagen wir mal… eine Stunde mehr „Feierabend“ pro Arbeitstag, da werden wir doch gleich aktiv. Wir machen endlich Sport oder spielen so richtig lange mit den Kindern. Wir kümmern uns um Verwandte und Freunde, betätigen uns womöglich ehrenamtlich oder machen irgendwelche anderen nützlichen Dinge. Da fühlen wir uns doch gleich besser, oder?
Nein? Doch nicht? Ach, wir hängen diese Stunde vor dem Fernseher ab, legen uns hin oder machen das erste Bier vorsichtshalber eine Stunde eher auf. Wenn wir dann zu Bett gehen, haben wir in diesem Fall lediglich eine Stunde mehr rumgehangen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass hierbei die Zufriedenheit spürbar steigt. Allerhöchstens die Trägheit.
Bei den etwas älteren Leuten in meinem Umfeld scheint das eher auf die zweite Möglichkeit hinauszulaufen. Aber vielleicht berappeln die sich noch. Ich selbst fühle mich von Tag zu Tag träger, obwohl ich kein Home Office mache. Ich denke, Herr Wustmann sieht die Präsenz auf einem Home Office Arbeitsplatz etwas zu optimistisch.
Lieber faselt Herr Wustmann etwas von Macht, den die Arbeitgeber dank ihrer „Tempel“ an Bürogebäuden gegenüber den kleinen Angestellten ausüben wollen. Da hat Herr Wustmann eindeutig zu viel Game of Thrones und ähnliche Kultur Highlights konsumiert, da rauchte wahrscheinlich nicht nur sein Kopf, sondern auch die dreiblättrige selbstgedrehte Zigarette. Oder sollte er zu lange in seinem Home Office verbracht haben?
Eins ist jedenfalls klar. In Ergänzung zum aktuellen Maskenzwang fördert die Abgeschiedenheit im Home Office eine stark zunehmende Vereinsamung der Menschen. Von einer dringend notwendigen Solidarisierung der Arbeitnehmer ist da nicht mehr die Rede. Dies wäre aber erforderlich, wenn sich die Träume von Herrn Wustmann erfüllen sollen. Andernfalls nämlich, und davon gehe ich stark aus, werden die Arbeitnehmer eiskalt abgekocht.
Denn je mehr Zeit der Arbeitnehmer im Home Office verbringt, desto größer ist die Gefahr, dass sein Arbeitsplatz andersweitig - und damit preiswerter - vergeben werden kann. So ist es bei den allgegenwärtigen Großkonzernen mittlerweile mehr und mehr üblich, international und gerne auch vernetzt zu arbeiten.

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