Mittwoch, 8. April 2020

H. Lecter: Alf


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Während Alf wie ein Stein auf der hölzernen Bank schlief, leerte ich noch eine der übrig gebliebenen Bierdosen. Es dauerte vielleicht eine halbe Stunde, bis er unter dem grellen Sonnenlicht wach wurde und sich erst einmal orientieren musste. In solchen Situationen erinnerte sein Gesichtsausdruck an einen Maulwurf, der irrtümlich kurz nach 12.00 Uhr in der prallen Mittagssonne seinen Bau verlässt.
Man muss sich das einfach nur mal vorstellen: Eine Stunde vorher schob er mich noch mit schallender Lache im Einkaufswagen über den Bahnsteig, und jetzt war seine überbordende Fröhlichkeit einer tiefen Melancholie gewichen. Dies könnte an aufkommenden Kopfschmerzen durch die Sonneneinstrahlung liegen; wahrscheinlich war er aber durch den starken Alkoholkonsum einfach nur unterzuckert.
Da wir nunmehr nur noch zu zweit unterwegs waren, konnten wir uns viel Zeit lassen. Der Kudamm war immer noch unser Ziel, war ja auch nicht weit weg. Wie ein altes Ehepaar schlichen wir unter einem wie gemalten Himmel eng umschlungen zum Kudamm. So könnte es jedenfalls den uns entgegenkommenden Passanten vorgekommen sein.
Tatsächlich verhielt es sich eher so, dass ich Alf stützte und er seine behaarte Pranke auf meiner Schulter ablegte. Seine schief sitzende Nickelbrille und das ständige Schnaufen in der Art eines Rhinozerosses legten diesen Schluss schon sehr nahe.
Keine Frage, Alf hatte ein momentanes Tief und benötigte dringend seine Mischung oder aber seine Ruhe, sprich einen Schlafplatz. Ich dagegen war lediglich unterhopft; ein frisches Bier würde mir gut tun. Und natürlich etwas zu essen, gar keine Frage eben.
Nachdem wir dann endlich den Kudamm erreicht hatten und ein wenig herum geschlendert waren, stellte ich erfreut fest, dass auf der Straße ein mordsmäßiger Trubel vorherrschte. Der Kudamm versank quasi ich einem Meer aus Grün Weiß Schwarz, die rein Grün Weißen aus Wolfsburg waren hier klar in der Minderheit.
Die Gladbacher waren in jenem Pokalendspiel auch leicht favorisiert; ihre damals bereits große Fanbase stellte die der Wolfsburger gehörig in den Schatten. Bei den Wolfsburgern war es nicht so viel her mit Fan Clubs. Das Retorten Image des VFL speiste sich zu Recht aus dem Umstand, dass der Verein hauptsächlich von Gelegenheitsfans unterstützt wurde. Den Wolfsburger Anhängern fehlten sichtbar die Kuttenträger mit all den dazugehörigen Insignien. Die einheitlichen Käppis und Schals ließen ihre Herkunft – dem Edeka Markt um die Ecke - förmlich erahnen.
Bereits nach kurzer Zeit befiel mich ein dringendes Bedürfnis, welches mich seit jeher nach dem Genuss größerer Mengen an Bier befällt. Ich musste pieseln, nur wo? Eine öffentliche Toilette war nirgends in Sicht und dank der vielen Gladbacher mit ihrem lauten Geschnatter hatte ich Orientierungsprobleme. Dazu erschien mir Alf wie ein Klotz am Bein, der mich an der Ausübung meines momentan dringenden Bedürfnisses hinderte.
Müde setzte er sich auf eine Holzbank am Wittenbergplatz. Umringt von einer Menge an Gladbachern, die dort friedlich ihre Dosen leerten und auch gesanglich bereits die nötige Betriebstemperatur erreicht hatten. Alf fiel da im Gedränge gar nicht weiter auf, er fiel eher hin – will sagen zur Seite – und drohte wieder einzuschlummern. Ich klopfte kurz an seine Backe und sagte ihm mit aller Eindringlichkeit: „Ich gehe jetzt Pinkeln. Warte hier auf mich, ich bin gleich wieder da. Dort gegenüber ist ein Burger King. Soll ich Dir von dort noch etwas mitbringen?“
Lautlos schüttelte er mit seinem Kopf und ließ sein Kinn sogleich nach unten Richtung Brustkorb fallen. Offenbar hatte er meine Ansage noch mitbekommen. Ich würde also in wenigen Minuten ein großes Glücksgefühl erleben, wenn ich die Toilette beim Burger King erst einmal erreicht hätte.
Eine Wohltat war das. Heute, 20 Jahre später, würde ich nicht mehr so lange aufhalten können. Dann blieb als nächstes erst einmal folgendes zu tun: Anstellen am Tresen, um etwas zu essen. Wie erwähnt, fehlte mir das noch. Bier macht ja bekanntlich hungrig. Und mein Körper verlangt anlässlich solcher Gelage verstärkt nach Junk Food.
Gierig stopfte ich mir zwei Burger hinein und beherrschte mich, nicht noch mehr in diesem Laden zu ordern. Selbst hier waren lauter Gladbacher um mich herum, denen es ähnlich ging wie mir. Das nochmalige lange Anstehen bei dem vielen Andrang wollte ich mir ersparen.
Es galt, sich wieder um Alf zu kümmern. Zugegebenermaßen hatte ich doch länger als 10 Minuten bei Burger King gebraucht. Mühsam kämpfte ich mich durch die grün weiß schwarze Menschentraube auf der Straße zur Holzbank, wo ich Alf zurückgelassen hatte.
Er war nicht mehr da. Mist, jetzt hatte ich doch zu lange gebraucht. Irgendwann musste Alf wach geworden sein und war dann weggegangen. Wo war er bloß abgeblieben? Zu suchen machte keinen Sinn, bei diesem Menschenauflauf am Kudamm.
Er würde sich zum Olympiastadion allein durchschlagen müssen. „Alf ist ja auch schon 18.“ Dachte ich.

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