Montag, 30. September 2024

Uncle Fester: grad gelesen September 2024

Marion Herzog: Algorytmica / Terra Nova
Eine deutsche Autorin, welche vorher wohl eher leichte Lektüre geschrieben hatte und jetzt einen Zweibänder vorlegt? Da war ich gespannt und wurde nicht enttäuscht. Die ganze Story ist packend aufgebaut, obwohl mir aufgefallen war, dass Frau Herzog hier aus vielen Klassikern des Genres eine Mixtur zusammengerührt hatte. Das nimmt den Roman natürlich die Exklusivität, konnte aber einen guten Page Turner nicht verhindern. Von der leicht kitschigen Liebesgeschichte abgesehen, oder vielleicht gerade deshalb, haben wir hier ein hervorragendes Einstiegswerk für Neulinge in der Science-Fiction-Literatur vor uns.
Die letzten Menschen leben in riesigen Bunkeranlagen unter der Erde, denn der atomare 3. Weltkrieg hat die Oberfläche unbewohnbar gemacht. Aha - klingt gewaltig nach dem Megaerfolg „Silo“ von Hugh Howey. Und auch der hatte die Idee geklaut - von Philip K. Dick. „The Penultimate Truth“ (dtsch. 10 Jahre nach dem Blitz) solltest Du unbedingt lesen, falls noch nicht geschehen. Eine wunderschöne Gesellschaftskritik.
Doch in Algorytmica können sich die Menschen wenigstens 24/7 in virtuelle Welten einloggen (Surrogates mit Bruce Willis), damit sie vergessen können, dass sie in Wirklichkeit in Kisten an die Lebenserhaltung angeschlossen sind (Matrix). Wie schon gesagt - ein bunter Mix, der aber sehr gut harmoniert.
Kaja Andersson ist privilegiert, denn sie ist die Tochter des obersten Programmierers der staatlichen Hologramme in der Bunkeranlage „Hope of Tomorrow“. In der virtuellen Realität studiert sie Informatik, um es ihren Eltern gleichzutun. Allerdings bringt Kaja nicht das geringste Interesse oder Talent für ihr Studium auf; ihre Leistungen sind dementsprechend.
Jedoch macht sie sich dennoch große Hoffnungen, zum staatlich beschränkten Familienprogramm zugelassen zu werden. In dem Bunker sind die Ressourcen begrenzt, daher ist diese Maßnahme nur allzu verständlich. Und Kaja geht zur Überraschung all ihrer Freundinnen bei der alljährlichen Bekanntgabe der Gewinner/-innen, welche von der allgegenwärtigen KI ausgewählt und als Paare bestimmt werden, leer aus.
Und es kommt sogar noch schlimmer: Gerade als sie Kontakt zu den Dark Surfern, welche die einzige Opposition darstellen und auf die Oberfläche wollen, aufgenommen und sich in deren Kopf, dem genialen Programmierer Liam Turner verliebt hatte, wird dieser ihrer besten Freundin Lora als Partner für das Familienprogramm zugelost.
So nach und nach entfremdet sich Kaja dank Liam und seiner Freunde nicht nur von ihren Eltern, sondern auch Lora. Kaja begreift, dass Lora in den Augen ihres Vaters die Wunschtochter ist, die er in Kaja nicht hat. Lora steht hinter dem System, welches an Orwells 1984 erinnert, und ist eine fähige Programmiererin. Der kaltherzige Andersson hatte an den Fäden gezogen, um Lora und Liam zusammenzubringen.
Kurz bevor die Widerstandsgruppe ihre Flucht an die Oberfläche umsetzen kann, werden Liam und Lora in der virtuellen Realität in ein paradiesisches Appartement gesteckt; die Zeugung des Kindes in der Realität erfolgt künstlich. Liam kann sich dem nicht entziehen, will er nicht als Oppositioneller auffliegen und den gesamten Widerstand gefährden.
Mit Hilfe von Sandra, die Liam schon immer geliebt hatte und Kaja deshalb eher hasserfüllt gegenübersteht, kann Kaja jedoch Liam befreien und aus dem Bunker fliehen. Die beiden Liebenden haben noch die Ärztin Allison und den Piloten Sam dabei, als sie auf die Oberfläche durchstoßen.
Und Rumms! - schon sind wir im zweiten Band. Anders als es die Präsidentin der „Archianer“ Anna Smith immer behauptet hatte, leben Menschen auf der Oberfläche. Diese Outlaws fristen ein spärliches Dasein in einem weitverzweigten Höhlensystem. Dort verstecken sie sich vor Kayne Cole, dem mächtigen Präsidenten der Townships.
In diesen Siedlungen herrscht Cole dank einer eisernen Militärdiktatur. Nur dort können die Nutri-Shots produziert werden, welche auch die Menschen in den Bunkern ernähren. Deshalb ist es das vorrangige Ziel der Outlaws, die Zuliefererleitung des Nutri-Shot zu den Bunkern zu zerstören. Warum muss ich hierbei nur an Nord Stream I und II denken?
In diesem zweiten Band tauchen auch neue Charaktere auf. Zum Beispiel der Outlaw Nathan Turner, der sich als Bruder von Liam herausstellt. Eine Zeit lang scheint sich da ein Verhältnis zwischen Nathan und Kaja anzubahnen, zumal sich Liam mehr und mehr zurückzieht, weil er an sein Kind mit Lora denken muss.
Nathan hat einen wesentlich sanfteren Charakter als sein Bruder; vielleicht drücken sich in dieser Figur Sehnsüchte der Autorin aus. Eine weitere interessante Hauptrolle bekleidet Elisa, eine Amazonin der Outlaws und heimlich verliebt in Nathan. Hier ergibt sich also auch wieder eine Konkurrenzsituation in Liebesdingen für Kaja. Gibt es diesbezüglich etwa auch einen Bezug zum Leben der Autorin?
Fragen über Fragen also, die im Roman selbstverständlich nicht geklärt werden können. Was leider jedoch etwas in den Hintergrund tritt, sind die „Bösewichter“ des Bunkers - Lora sowie Kajas Eltern. Zwar werden kurze Szenen mit diesen Protagonisten vereinzelt eingestreut, dies aber eher etwas unmotiviert abseits der Haupthandlung. Erst zum Schluss offenbart sich da der logische Zusammenhang, was es im Nachhinein wieder gut macht.
Nachdem die Zerstörung der Pipeline gescheitert ist, können unsere Helden am Ende doch die Menschen im Bunker befreien, bevor die Bunkerinsassen getötet und lediglich als Geister ins System hochgeladen werden.
Und ganz am Ende verliert Kaja ihren Liam, weil dieser komplett ins System hochgeladen wurde (um sein Kind zu sehen) und seinen Körper verloren hat. Aber sonst sind die Bunkerbewohner gerettet.
Marion Herzog hat sich noch eine Hintertür für eine Fortsetzung offen gelassen. Kayne Cole treibt immer noch sein Unwesen und Liam ist ja noch in der virtuellen Realität vorhanden. Genug Stoff für ein ganzes Serienuniversum also; aber das ist wahrscheinlich nicht der Plan der Autorin. Auf jeden Fall sind die beiden Bände eine kurzweilige Lektüre mit ernstem Hintergrund.

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