Sonntag, 23. Mai 2021

Hartmudo: Mutter

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Was mir allerdings bei dieser frechen Forderung der Hausverwaltung durch den Kopf ging, war Folgendes: Obwohl Berta und ich mit Sunny nicht mehr sprechen, kommen wir trotz des ganzen Misstrauens auch mal zu gleichen Ergebnissen. Das gibt mir ja Hoffnung, dass wir alle wieder zur Normalität zurückgefunden haben, selbst wenn wir uns aus dem Wege gehen. Dies ist ein Fortschritt.
Wir alle Drei sind durch unser Elternhaus geprägt worden - wer ist das nicht! Es war unser Vater gewesen, der dank unserer jährlichen Besuche bei seiner Schwägerin in Lanzendorf seine Kinder nebst deren Nachkommen um sich scharte und dadurch einen Zusammenhalt schuf.
Ich kann leider aber nicht verhehlen, dass dies nicht zuletzt auf einer gewissen Ächtung von Mutter beruhte. Mutter hatte mit den Lanzendorfern Animositäten gelebt. Und Vater hatte sie deshalb in die böse Ecke gestellt, was wir Kinder kommentarlos übernommen hatten. Mutter wurde quasi unser verbindendes Glied, was allerdings auf ihrer Rolle als Buhmann beruhte. Damals hatte ich darüber nicht nachgedacht, doch leider mitgemacht.
Mit Vaters Tod und dem nachlassenden Kontakt in der Folge zu den Lanzendorfern brach sehr schnell der Kitt, welcher uns zusammenhielt, ersatzlos weg. Mutter war nicht in der Lage und erst recht nicht daran interessiert, die Familie zusammenzuhalten. Sie konzentrierte sich voll auf Walter und erlebte die wohl glücklichste Zeit ihres Lebens. Weder Berta noch Sunny hatten dies anfangs verstanden.
Ich selbst bekam in den 90ern gar nicht mit, wie rapide sich die Stimmung zwischen meinen Sestras eintrübte. Wie sollte ich das denn auch mitkriegen, wo mich die Familie in dem Jahrzehnt nicht die Bohne interessierte.
Erst nachdem ich meine Löwin kennen- und liebengelernt hatte, erwachte mein familiäres Interesse. Vorher hatte ich mich als Außenseiter gefühlt, vielleicht auch als Versager, weil ich immer noch als Single durchs Leben geschlichen war. Und dann bildete ich Großkotz in meiner intellektuellen Überheblichkeit noch ein, in der Familie die Harmonie wieder herstellen zu können.
Hatte es mich aber wirklich interessiert? Ich fürchte heute... nein. Das all meine Versuche, einen regelmäßigen Kontakt mit Sunnys Leuten herzustellen, ins Leere liefen, hatte ich nicht einmal registriert. Ich war so vernarrt in die Vorstellung, dass meine Sestras und ich uns selbst ohne häufigen Kontakt gut verstehen würden, dass ich die Wahrheit einfach nicht sah. Wenigstens ist das jetzt geklärt.
Noch in den 90ern war ich ein paar Mal nach der Arbeit zu Sunny gefahren, um den Kontakt nicht ganz zu verlieren. Ein Gegenbesuch erfolgte nie, weil Sunny sich nicht traute, Auto zu fahren. Oder weil sie sich um ihre Pferde kümmern musste. Erst kurz vor Mutters Tod hatten sich Reiner und Sunny den Smart als Zweitwagen gekauft, mit dem Sunny endlich mal aus Dettum rausfahren kann.
Da hatte ich mich für sie gefreut und sie sofort eingeladen, meine Löwin und mich einfach mal so zwischendurch zu besuchen. Es kam nicht dazu; entweder waren es die Pferde oder ihr Job am Vormittag, der sie daran hinderte. Ich glaube, dass ihr Interesse an einem Besuch eher schwach ausgeprägt war. Zugegebenermaßen war das Zeitfenster für einen Besuch - also zwischen Einladung und unversöhnlichem Streit - nicht gerade groß.
Immer wenn ich überlege, woran es gelegen haben könnte, dass wir Geschwister im Streit auseinandergegangen sind, bleibe ich bei der Geschichte mit Mutters Schmuck hängen. War es am Ende meine Schuld, dass sich vor allem Berta und Sunny spinnefeind sind?
Ich denke da an die Sicherstellung von Mutters Schmuck durch Berta anlässlich der Trauerfeier in Melverode. Schließlich hatte ich Berta bekniet und am Ende auch überredet, den Schmuck aus Mutters Wohnung zu nehmen. Das Ganze geschah Hals über Kopf, ich dachte da die ganze Zeit an den Schmuck, der Mutter am Totenbett entwendet worden war. Eine Sauerei ohne Ende.
Hatte ich da etwa überreagiert? Auf jeden Fall hätte ich Sunny noch Bescheid sagen müssen, dann hätte sie keinen Grund gehabt, uns - vor allem Berta - irgendwelchen Schmu zu unterstellen. Aber dann hätte sie einen anderen Grund gefunden, warum sie angeblich benachteiligt worden sei.
Sunny nicht zu informieren war wohl lediglich der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Wie ich aus ihren Äußerungen vor und nach Mutters Tod schließe, war ihr der enge Kontakt zwischen Berta und mir ein Dorn im Auge. Da fühlte sie sich dank ihrer Paranoia zurückgesetzt und dachte bestimmt, dass wir sie über den Tisch ziehen würden. Sie nahm sich demzufolge nur das, was ihr zustand.
Nur so kann ich mir erklären, dass sich Sunny einreden kann, dass sie alles richtig gemacht hatte, während Berta und ich heimlich Wertgegenstände beiseite geschafft hätten. Dies ermöglicht ihr, auch weiterhin in den Spiegel zu gucken und das Unschuldslamm zu geben. Menschen mit diesem Krankheitsbild sind schwer erträglich.
Und wenn das mit der Lügerei schon im Kindesalter auch so geschehen war, wie Berta es mir schilderte, oder es zumindest Berta vorkam - Kinder verstehen Dinge häufig falsch - dann tendierte Sunny mit dem Erwachsenwerden dazu, dieses Verhalten einzusetzen, um Freunde zu finden und andere Leute in ihrem Sinne zu beeinflussen. Da hatte sich bei ihr eine verquere Weltsicht etabliert, aus der Sunny ohne fremde Hilfe nicht hinausfindet.
Denkbar wäre auch eine Medikamenten- oder auch Alkoholabhängigkeit. Suchtbolzen tendieren ja bekanntlich zu extrem emotionellen Verhaltensweisen und nehmen die Welt in ihrer eigenen Weise wahr. Im Freundeskreis habe ich es immer wieder mal erlebt, dass jemand sich zumindest phasenweise komisch verhält.
Ich selbst hatte einmal einem guten Freund unter extremen emotionellen Druck Schläge angedroht; das ist gerade mal 20 Jahre her. Aus Eifersucht um eine Frau. Vollkommen unberechtigt, wie ich damals eigentlich auch schon wusste. Doch die Belastung auf meinem abgesoffenen Arbeitsplatz im Sozialamt, auch durch unbesetzte Planstellen, trieb mich in die verrückte Vorstellung, mein Freund würde mir die Frau "wegschnappen", in die ich mich damals unglücklich verliebt hatte.
Ich hatte mich dermaßen in diese falsche Vorstellung verrannt, dass ich zwei Wochen lang jeden Abend mindestens einmal "the big Lebowski" angeschaut hatte und dazu neben den selbstgedrehten "Raketen" noch jede Menge White Russian soff. Ich wurde von Tag zu Tag aggressiver; erst als ich in der Kneipe abrastete und mich durch die Bedrohung meines Freundes zum Vollhorst machte, wachte ich langsam auf.
Auf dem Weg nach Hause wurde mir da endlich bewusst, wie bescheuert mein Verhalten und meine Sicht der Geschehnisse gewesen waren. Dass ich in der Zeit auch auf der Arbeit dank der Mischung aus Raketen und White Russian übermäßig aggressiv mit meinen Kollegen und vor allem Hilfeempfängern (heißen heutzutage Kunden) umging, erschreckte mich um so mehr.
Schlagartig war mir eins klar geworden: So konnte es nicht weitergehen. Wenn ich so weiter machen würde, könnte ich nicht nur mir bis heute wichtige Freundschaften verlieren, sondern auch meinen Job. Da stand ich wohl auch schon auf der Abschussliste - bildete ich mir typischerweise ein. Anyway - jetzt wisst Ihr alle, warum ich damals mit dem Abbrennen von Feuerwerkskörpern aufgehört hatte.
Dies habe ich bis heute nicht bereut. Das war wohl eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Das ist aber auch der Unterschied zu meiner Sestra Sunny. Ich habe damals eben noch gemerkt, was ich anderen Menschen antue und die notwendigen Konsequenzen aus meinem Fehlverhalten gezogen.
Nach vielen Entschuldigungen - die mein Freund gar nicht hören wollte - hatte ich erkannt, dass ich emotionell viel zu instabil in Krisensituationen gewesen war und habe seitdem (hoffentlich) die Gefahr des Auftretens derartiger Neurosen gebannt oder zumindest gemindert. Sicherlich gab es seitdem einige kleinere Rückschläge, die ich aber eingedenk der schrägen zwei Wochen am Anfang dieses Jahrtausends meistern konnte. The Big Lebowski ist immer noch mein Lieblingsfilm, den ich allerdings seit jener Zeit nur ein einziges Mal angesehen hatte. Mit meiner Löwin; und die schlummerte dann auch noch sanft während des Films weg.
Sunny und selbst Berta tragen ebenfalls solche emotionellen "Krücken" mit sich herum. Bei Sunny äußerte sich dies in der Vergangenheit ebenfalls mit verstärkter Aggressivität wie bei mir. Doch sie ist leider nicht in der Lage, ihr Dilemma mit Emotionen in Krisensituationen zu erkennen und bekommt es bis heute nicht hin, eigenes Fehlverhalten zu erkennen und dieses abzustellen.
Sie hatte mir während der zahlreichen Telefonate nach Mutters Tod mal erklärt, dass sie sich immer entschuldigt hätte und es nicht mehr einsehen würde, dass zu tun. Da kann ich ihr nur zustimmen. Jetzt möchte ich sicher keine Entschuldigungen von ihr hören. Ich möchte lieber gar nichts von ihr hören.
Mutter war genau so. Tür zu und vergessen - das mach ich auch so. Bloß keinen Fehler zugeben - da haben wir Sunny vor Augen. Gib lieber nach und widersprich nicht - da wären wir bei Berta.
Berta repräsentiert eine andere Seite unserer Mutter, die aber auch typisch für unseren Vater war. Als da wäre: Bloß keinen Stress; lieber draufzahlen, vor allen Dingen nicht auffallen. Das ist wohl auch mein Style, insofern bin ich da eine Mischung aus Berta und Sunny. Und wo ich durch diese Widersprüchlichkeit für meine Umwelt häufig schwer zu verstehen bin, kann das zwischen meinen Sestras schon gar nicht klappen.
Als Geschwister, deren Zusammenhalt durch ihr Elternhaus in keinster Weise gefördert worden war, weil Offenheit auch nicht vorgelebt wurde, hätten wir uns nur zusammenraufen können, wenn wir uns VOR dem Tod von Mutter, besser noch vor dem Tod unseres Vaters, zusammengefunden hätten und einfach mal aus der Kindheit geplaudert hätten.
Kurz vor Walters Tod hatten wir mal einen solchen Moment, aber da hatten wir nicht drauf aufgebaut. Jeder von uns hat sich in seinem Leben bequem eingerichtet. Mit Berta bin ich in den letzten Jahren wieder zusammen gekommen. Hieran war meine Löwin nicht unbeteiligt, was mir wieder mal zeigt, welch ein Glück ich durch diese Frau erfahren durfte und hoffentlich noch lange darf.
Sunny war leider in den letzten 15 Jahren nicht in der Lage gewesen, auf den Zug aufzuspringen. Wo Berta sich um den Aufbau der Familienidylle kräftig bemühte, obsiegte bei Sunny Neid und Misstrauen. Es handelte sich um die Angst, als Außenseiter oder etwas Ähnliches dazustehen. Diese Neurose wuchs dann unter der emotionellen Belastung zu einer Psychose heran, die mich und auch Berta dann aus der Bahn warf.
Das war vielleicht der 23. Versuch der Beschreibung, was in Zusammenhang mit uns bei Mutters Tod und dem anschließenden Hickhack passiert war. Ich könnte wohl noch jahrelang darüber sinnieren, was da eigentlich vorgefallen war. Auch dies wäre typisch für meine Familie.
Doch ich lasse das mal und beende diese Story an dieser Stelle.
Wie werden Berta, Sunny und ich uns in 5 - oder in 10 - Jahren gegenüberstehen? Lesen Sie mehr, wenn das nächste Bier....
Schluss.

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