Dienstag, 23. März 2021

Hartmudo: Mutter

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Da für mich feststand, dass Sunny sich mein Smartphone unter den Nagel gerissen hatte, war es an der Zeit zu handeln. Ich ging an meinen Schreibtisch und suchte die Nummer zum Sperren des Smartphones auf. Ich rief bei der Hotline an und liess mein Phone sperren. Nun konnte ja nicht mehr viel passieren, dachte ich.
Und da erkennt man schon meinen Denkfehler. Vom Sperren des Smartphones wird es nicht unbrauchbar. Sunny hätte es sich mit den darauf gespeicherten Daten, also meinem Adressbuch, noch sehr gemütlich machen können, also Schaden anrichten.
Doch zum Glück gibt es da ja immer noch diese Stimme im Hinterkopf, die ruhig bleibt und mir in solchen Momenten sagt, dass ich mich vielleicht doch getäuscht hatte. Denn ich hätte mich zum Vollhorst mit einem Anruf bei Sunny machen können, indem ich ihr am besten den Diebstahl meines Smartphones vorgeworfen hätte. Was wäre das für ein gefundenes Fressen für Sunny gewesen! Da wird sie von ihrem Bruder doch tatsächlich des Diebstahls bezichtigt! Sie hätte sich in allem bestätigt gesehen, was auch immer sie über mich und mehr noch über Berta denken mag.
So allmählich beruhigte ich mich. Bei allem nervlichen Stress in der Nord/LB wäre es sehr gut möglich gewesen, dass ich mein Smartphone einfach dort liegen gelassen hatte. Das konnte ich natürlich am Freitag Nachmittag nicht mehr klären. Bis Montag Morgen war die Bank geschlossen und wegen eines Handys wird auch nicht die GSG 9 alarmiert.
Zuguterletzt klammerte ich mich an die Hoffnung, dass ich mein Smartphone auf der Rückfahrt nach Hause im Auto von Berta und Bud verloren hatte. Wäre nicht dass erste Mal gewesen, dass mir im Auto irgend etwas aus der Tasche fällt und ich es nicht merke. Dieser Gedanke, ausgesprochen von der Stimme im Hinterkopf, setzte sich fest. Mantramäßig schob ich diesen Gedanken über die dunklen Wolken einer miesen Attacke seitens Sunny und beruhigte mich darüber mehr und mehr.
Der Gin Tonic und der Obstler hielten diesen Deckel auf dem Topf voller Ängste, nicht gerechtfertigter Anschuldigungen und völlig aus der Luft gegriffener Szenarien. Ich ging zurück ins Esszimmer, wo meine Löwin bereits das Spiel ausgepackt hatte. Mensch ärgere Dich nicht - eine notwendige Ablenkung. Das hat sie drauf, meine Löwin. In solchen Situationen behält sie einen kühlen Kopf und macht das Richtige.
An mein Smartphone dachte ich von Minute zu Minute weniger. Ich hatte es sperren lassen - gut. Sunny konnte nicht mehr die Zeitansage von Tokio anrufen (das hielt ich doch tatsächlich für möglich!) und damit meine nächste Rechnung in ungeahnte Höhen schnellen lassen. Das Smartphone wäre sicherlich in Buds Auto - falls nicht, könnte ich mir später darüber Gedanken machen.
Auch Berta schob da eine Paranoia vor sich her. Es ging ihr um die Rechnungen, die von uns noch beglichen werden mussten. Finanzamt, Steuerberater oder Makler - alle Post zum Nachlass von Mutter ging zu Berta. Und Berta steigerte sich in die Befürchtung hinein, dass Sunny ihren Anteil daran einfach nicht bezahlen würde.
Ich versicherte Berta, dass ich mich selbstverständlich an Bertas Schaden beteiligen würde, so denn einer auftreten sollte. Da kam ich mir sogar richtig toll vor; was für ein Schmarrn. Auf das Naheliegende kam ich einfach nicht. Da waren Berta und ich total kirre geworden ob des ganzen Ärgers, den wir in den Monaten zuvor erleben mussten.
Meine Löwin war es, die einen klaren Kopf behielt und uns aus der Gedankenfalle holte. Berta und ich würden lediglich unsere Anteile bis auf das von Sunny zu übernehmende Drittel bezahlen und die Rechnungen mit einem entsprechenden Vermerk zu Sunny schicken. Finanzamt wie Makler würden wir dies auch so schildern. Damit hätte Sunny den schwarzen Peter, so sie denn die Restbeträge nicht begleichen würde.
Endlich waren Berta und ich beruhigt, nun konnten wir aufatmen. Dank meiner Löwin konnten wir unsere Ängste zügeln und zur Abwechslung mal nach vorne schauen. Das Spielen half hierbei ungemein.
Mit Berta und Bud spielten wir öfters Mensch ärgere Dich nicht. Dieses einfache Spiel wirkt deshalb so entspannend, weil man nicht viel nachdenken muss. Mehr als alles andere ist es ein Glücksspiel mit Regeln, dass jedes Kind versteht und daher sofort spielbar ist. Man fiebert zwar mit, aber wird durch das Würfelglück immer daran erinnert, dass die beste Taktik nichts nützt, wenn Du keine Sechsen würfelst. Das ist bei Mensch ärgere Dich nicht so, aber auch im richtigen Leben.
"Drano macht das Rohr frei", hieß es in der Reklame früher immer. Genau wie Mensch ärgere Dich nicht diesem Nachmittag. Nach kurzer Zeit lachten wir, frotzelten etwas und arbeiteten uns am Obstler ab. Berta und ich wurden so wieder auf Spur gebracht. Abgelenkt von unseren düsteren Gedanken, dass uns der Himmel auf den Kopf fallen würde, gönnten wir uns eine positive Sichtweise. Nach vorn blicken ist halt immer besser als sich unter einer Decke zu verstecken. Böse, böse Welt ist der falsche Weg.
Stattdessen realisierten wir mit jedem Obstler mehr, dass die ganze Chose jetzt bis auf einige "Restarbeiten" quasi abgeschlossen war. Steckte uns am Anfang des Spielens noch der Schock ob der Anfeindungen durch Sunny nach dem Auftritt in der Nord/LB in den Knochen, so schafften wir es nach einigen Frotzeleien, die ganzen Streitereien ad Acta zu legen und uns wieder auf die Zukunft zu konzentrieren.
Oder auch: Eine Sorge weniger, wie der Sarkast in mir sagen würde. Im Nachhinein ist es jedoch traurig, dass wir an diesem Nachmittag nicht an Mutter selbst gedacht haben. Wir Geschwister waren an diesem Tag, da beziehe ich Sunny auch mit ein, ausschließlich mit uns selbst beschäftigt.
Nach vielleicht zwei Runden Mensch ärgere Dich nicht wollten Berta und Bud schließlich nach Hause. Berta verabredete mit meiner Löwin noch, dass beide eine Flasche Champagner zusammen trinken würden, wenn auch die letzten Überweisungen getätigt wären. Die beiden wollten einen sichtbaren Schlussstrich ziehen, derart symbolträchtige Aktionen waren schon immer ganz nach meinem Geschmack.
Guter Laune zogen Berta und Bud ihre Schuhe an und verabschiedeten sich herzlichst von meiner Löwin. Nicht von mir, denn ich ging noch mit auf die Straße zu ihrem Auto, um mein Smartphone zu suchen. Auf dem Weg tat es richtig gut, Berta mal locker und gelöst zu erleben. Sicherlich sollte sie öfters mal zum Obstler greifen.
Kaum hatte ich die Beifahrertür des Daimlers aufgemacht, da stach mir auch schon mein Smartphone ins Auge. Da hatte sich doch der kleine Racker während der Fahrt aus meiner Jackentasche befreit! Zwischen Mittelkonsole und Sitz lugte die Spitze gerade noch hervor. Sicher freute sich mein Phone, als ich es liebevoll aus dieser Klemme befreite und in meiner Hand festhielt.
Ich verabschiedete mich von Berta und Bud, atmete einmal stark durch und ging dann, Berta und Bud im Daimler hinterherwinkend, zurück in unsere Wohnung. "Es ist vorbei! End - lich vorbei!" ging mir durch den Kopf. Da ging mir alles Mögliche durch den Kopf, ohne dass ich es in Worte hätte fassen können. Selbst Jahre später kann ich meine Gefühle in jenem Moment nicht beschreiben.
Mit Sunny brauchte ich mich jetzt nicht mehr auseinanderzusetzen; wir würden uns nicht mehr in Rage streiten müssen - darüber war Sunny an dem Tag garantiert auch froh, obwohl wir uns darüber nicht mehr unterhalten hatten. Wir bräuchten uns nicht mehr sehen und konnten daher sicherlich beide besser schlafen.
Dank der tatkräftigen Unterstützung meiner Löwin konnten wir Berta und Bud davon überzeugen, dass sich an unserem Verhältnis untereinander nichts ändern würde. Dies war ja für Berta überaus wichtig, da sie in den letzten Monaten unter dem Dauerfeuer durch Sunny stand und sichtlich angegriffen war.
Meine Löwin und ich ließen den Tag dann vor dem Fernseher ausklingen. Meine Befürchtungen wegen des vermissten Smartphones hatten sich gottlob nicht bewahrheitet. Doch dass ich mich mal wieder mit aller Kraft in die Paranoia hineingesteigert hatte, ärgert mich bis heute.
Ich denke, dass es wohl diese Familienkrankheit ist, die uns 3 Geschwister nach Mutters Ableben befiel und zu Aktionen und gegenseitigen Anschuldigungen trieb, die bei mehr gegenseitigem Vertrauen nicht passiert wären. Und dieses Vertrauen fehlte uns leider. Zumindest zwischen Sunny auf der einen und Berta und mir auf der anderen Seite.
Am nächsten Morgen ging das Leben weiter. Da Berta und ich mit Sunny außer ein oder zwei Rechnungen nichts mehr zu verabreden hatten, konnten wir uns alle wieder auf den Alltag konzentrieren.
So endete die Story über die letzten Tage unserer Mutter und die anschließende Ordnung ihres Nachlasses mit dem unversöhnlichen Bruch zwischen Sunny und uns beiden anderen Geschwistern. Das letzte Mal sprachen wir uns im Einkaufszentrum Heidberg, besser brüllten uns an.
Ich wünschte, die Geschichte hätte ein positives Ende genommen. Allein schon unserer Eltern wegen. Leider war es uns nicht vergönnt.

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