Samstag, 23. Januar 2021

Hartmudo: Mutter

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Schein um Schein hatte ich abgezählt. Die einzelnen Anteile lagen aufgehäuft auf dem Schreibtisch von Frau Peters. Endlich war ich fertig. Doch leider... hatte ich mich verzählt. Ein Hunderter fehlte. In irgendeinem Bündel musste der Übeltäter stecken. Diese neuen Scheine klebten ja förmlich noch zusammen.
Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ließ sich allerdings nicht ändern, also fragte ich meine Schwestern, ob sie nicht nachzählen wollten. Beim Auszählen im Wahllokal ist es allgemein üblich, dass die Stapel beim Verzählen von einer anderen Person nochmals gezählt werden. Hat sich bewährt.
"Nein, das mach ich nicht. Ich bin ja sowieso immer die Böse. Zähl Du nochmal, Hartmudo!" Sunny blieb da konsequent ihrer Linie treu.
"Hartmudo, mach Du das. Sunny traut mir ja eh nicht." Auch Berta hielt sich hier bedeckt, da ging sie quasi rückwärts nach all den Kapriolen der letzten Zeit.
Da sich auch Frau Peters und ihre Kollegin von der Nord/LB sichtlich bedeckt hielten, blieb mir wohl gar nichts anderes übrig. Ich meine, beide Bankangestellten verhielten sich schon beim ersten Zählen betont unauffällig. Als ob irgendein falsches Wort von ihnen eine Lawine auslösen könnte.
Und wer weiß - vielleicht hat ja irgendein/-r von den Geschwistern ein Messer dabei. Oder schlägt einfach nur so um sich. Was auch immer die beiden Banktussis für Kurse in Sachen Deeskalation absolviert haben mögen: Da ist bei beiden nicht viel hängen geblieben. Souverän geht anders.
Somit begann ich, die einzelnen Stapel zu überprüfen. "Eins, zwei, Drei, Vier..." Mit stoischer Ruhe ging ich ans Werk und wurde zu meiner großen Freude bereits im 4. Stapel des ersten Haufens fündig.
"Elf!" Fast schrie ich die Zahl hinaus. Nicht nur bei mir, auch bei meinen Sestras löste sich spürbar die neu aufgebaute Spannung. Endlich hatte ich mal Glück gehabt, dass ich einen Fehler so schnell beheben konnte. Normalerweise gilt in derartigen Situationen vorzugsweise Murphy`s Law. Das wäre hier ein Fund des überzähligen Hunderters im letzten oder vorletzten Stapel gewesen.
Damit blieben mir als "Geber" noch drei Hunderter, die ich sogleich verteilte. Blieb noch das Geld aus dem Klingelbeutel. Fünfziger und Zwanziger kriegte ich noch gleichmäßig aufgeteilt. Ganz zum Schluss hatte ich noch zwei Zehner und 7,xy € an Kleingeld übrig, die natürlich auch noch verteilt gehörten.
Als ich hierzu meine Sestras um Rat bat, ergriff Sunny urplötzlich wieder die Initiative und meinte: "Nehmt ihr beide ruhig nen Zehner. Hauptsache, es ist jetzt endlich vorbei."
Da war es wieder - Sunny inszenierte sich mal wieder als Opfer. Sie musste leiden, weil Berta und ich so gierig waren. Blitzartig ging mir dieser Gedanke durch den Kopf. Als Krönung gab sie sich großzügig, ehe noch eins ihrer Geschwister von sich aus verzichten konnte. Was wir garantiert beide auch gemacht hätten.
Übrigens verlor Sunny kein Wort über die Höhe der Einnahmen des Wohnungsflohmarktes, der Pelze oder auch des Zahngoldes von Mutter. Dieses hatte ich wohl wegen der Assoziation zum dritten Reich in diesen Aufzeichnungen bislang nur kurz erwähnt. Und an dieser Stelle fingen Berta und ich nicht noch einmal mit diesem Thema an.
Denn wir waren es leid; Ohne es absprechen zu müssen, waren wir uns da einig. Wir wollten ein rasches Ende und nicht noch um einzelne Beträge feilschen. Sunny äußerte sich zu den von ihr vertickten Sachen lediglich dahingehend, dass diese zur Verrechnung mit den restlichen Barbeträgen von Mutter, die sie in ihrem Wohnzimmer aufbewahrte, gedacht seien.
Berta jedoch interessierte das herzlich wenig. Sie hatte nämlich diese Beträge aus einer Schatulle mitgebracht und verteilte diese gleichmäßig auf die 3 Haufen. Sie wollte "reinen Tisch machen. Das endlich Schluss ist." Wer da nun glaubt, dass Sunny daraufhin ihre Einnahmen offenlegte und doch noch unter uns aufteilte, irrt sich.
Bestimmt hatte sie sich gedacht: "Bitte, wenn Ihr meint. Nicht mein Problem." Sicher ist das nur eine Vermutung oder gar Unterstellung von mir. Doch so wie ich Sunny kenne und in den zurückliegenden Monaten kennenlernen durfte, liege ich damit eher richtig als daneben. Ein Charakterzug, der in unserer Familie nicht fremd ist. Da verhielt sich Sunny genau wie unsere verstorbene Mutter.
Das Geschachere hatte endlich ein Ende gefunden. Was wohl unsere Eltern zu den ganzen Vorgängen nach Mutters Tod gesagt hätten? Gern werden sie es nicht gesehen haben, so viel steht erst mal fest. Wobei... richtig traurig dürften beide nur über die Vorgänge beim Juwelier mit dem Zerkloppen des Schmucks und eben zum Ende bei der Verteilung des Geldes in der Nord/LB gewesen sein.
Nachdem das ganze Geld verteilt worden war, gab es zwischen uns nichts mehr zu bereden. Meine Sestras und ich nahmen unser Geld, steckten es weg und beeilten uns mit dem Aufbruch. Wir dankten Frau Peters und ihrer Kollegin für die Mühen und wünschten ihnen einen schönen Feierabend. Den Mädels war die Erleichterung förmlich anzusehen, dass während der gesamten Aktion kein Blut geflossen war.
Das dachten wir uns alle drei Geschwister auch, als wir unsere Jacken anzogen und zusammen nach draußen traten. Reiner stand auch schon da, um Sunny abzuholen. Ich erwähnte ihr noch kurz gegenüber, dass wir uns wegen ausstehender Rechnungen wie Steuerberater, Finanzamt und Makler bei ihr melden würden wegen ihres Anteils daran. Mit einem sparsamen "ist gut" bestätigte sie, diese Information akustisch empfangen zu haben. Ich äußerte abschließend ein unverbindliches "bis dann" und setzte mich mit Berta Richtung Parkplatz hinterm I Punkt in Bewegung.
Reiner nickte ich noch kurz zu, er nickte zurück. Gegen ihn hatte ich irgendwie nichts; ihm konnte ich noch aufs Fell gucken. Mit ihm hatte ich ja auch keinen Disput. Das sah zwischen ihm und Bud wohl anders aus, doch dazu kann ich lediglich Vermutungen anstellen, da ich mich in der zweiten Hälfte der 80er und in den 90ern bei gemeinsamen Aktionen mit der Familie stark zurückgehalten hatte.
Zu einem kleinen Eklat kam es dann auf dem Weg zum Auto. Ein Stück des Weges hatten wir noch gemeinsam zu gehen. Da ein Kontakt der zwei Gruppen nicht erwünscht war, trotteten Reiner und Sunny hinter uns her, seitlich leicht versetzt, als ob wir in Kabul gemeinsam nach Al-Kaida Kämpfern suchen würden.
Auf Höhe des Friseurs, also nach wenigen Metern, trennten sich unsere Wege. Plötzlich sprach - nein, brüllte - mich Sunny von hinten an. Sie wollte offenkundig noch etwas loswerden.
"Du wirst schon sehen, was Du davon hast, Hartmudo, als Du Dich auf ihre Seite geschlagen hast. Ein Waschlappen bist Du, der sich von Berta kontrollieren lässt. Schon immer hat sie gelogen, aber ich bin ja die Böse. Herzlichen Glückwunsch, jetzt habt ihr ja endlich, was ihr haben wolltet. Das Geld!"
Erwähnen möchte ich an dieser Stelle, dass ich mich lediglich für die ersten beiden Sätze verbürge. Einem Richter gegenüber würde ich da sagen: "So oder so ähnlich." Die restliche "Ansprache" ist mehr oder weniger ein Konglomerat aus Sunnys allgemeinen Tenor in jenen Monaten und dem ungefähren Wortlaut, so weit ich diesen nach bald zwei Jahren noch in Erinnerung behalten habe.
Die erneuten Hasstiraden, insbesondere der "Waschlappen", ließen mich zu meiner heutigen Verwunderung kalt. Wenn mich im Sozialamt ein Kunde derart anbrüllt und durchbeleidigt, dann raste ich schon mal aus. Auch wenn die Menschen, die mich näher kennen, es sich nicht vorstellen können, aber ich kann dann ganz schön ungemütlich werden. Eben so wie Sunny oder auch unsere Mutter - die konnte das ebenfalls sehr gut.
Ich hörte Sunnys Worte, aber sie perlten an mir einfach ab. Regungslos ging ich mit Berta weiter, vielleicht hatte ich noch die Hand winkenderweise - nein, kein Stinkefinger - zum Abschiedsgruß erhoben. So wie ein DJ im Radio den Song leise ausblendet, so wurde das Gezeter von Sunny auch immer leiser, bis es irgendwann ganz verschwunden war.

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