Mittwoch, 23. Dezember 2020

Hartmudo: Mutter

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Ich wollte einfach nur nicht hier sein. Nur schnell nach Hause und dort unter die Decke. Am liebsten tage- oder gar wochenlang. Unsicheren Schrittes betrat ich anschließend mit der ganzen Penunse das Büro. Kaum war ich drin, wurde es auf einmal mucksmäuschenstill. Ich denke aber, dass dort keine lebhaften Gespräche ins Stocken geraten waren, bloß weil ich den Raum betrat. Die vorherrschende Stimmung wäre mit frostig noch positiv umschrieben gewesen.
Selbst die beiden Frauen von der Bank blieben sprachlos. Egal was sie in irgendwelchen Deeskalationskursen gelernt haben mögen, jetzt war offenbar nicht der Zeitpunkt gekommen, um das dort Gelernte anzuwenden. Wahrscheinlich hatten beide auch Angst, dass die Stimmung noch weiter ins Negative abrutschen könnte. Eventuell hätte eine/-r von uns gar ein Messer zücken können. In den französischen Krimis der 60er Jahre soll so etwas schon öfter vorgekommen sein.
Jedenfalls war jetzt der Zeitpunkt der "Gewinnausschüttung" gekommen. Und wer außer mir wäre besser geeignet gewesen, das Geld aufzuteilen? Meine Sestras waren mit ihrem gegenseitigen Argwohn derart aufgeladen, dass aufgrund ihres gegenseitigen Misstrauens keine von Beiden daran denken konnte, das Bündel mit dem Geld in die Hand zu nehmen und aufzuteilen.
War es vor Monaten noch der Juwelier gewesen, der die Geldscheine auf dem Tresen verteilte, so oblag es diesmal mir, die Scheine gleichmäßig zu verteilen. "Eins. zwei, drei, vier..." zählte ich mal um mal laut bis jeweils Zehn die Hunderter ab, um das dann auf dem Tisch liegende Bündel gleichmäßig auf einen der drei Stapel gerecht aufzuteilen. Zur besseren Kontrolle versetzte ich die Bündel auf den Stapeln um 90 Grad.
Das kenne ich so vom Auszählen der Stimmzettel bei den Wahlen - seit mehreren Jahren bin ich bei der Briefwahl als stellvertrender Wahlvorsteher aktiv. Da ich von Wahlen her diese Art des Herangehens bereits verinnerlicht hatte, so dass ich es auch im Schlaf beherrschen würde, brauchte ich mich nicht allzu sehr zu konzentrieren und konnte so nebenbei meinen Gedanken nachhängen.
Da war zum einen die Situation an sich, von Wolke 7 aus dem Himmel betrachtet. Garantiert saßen unsere Eltern dort und hatten sicherlich die ganze Szene mit Missfallen beobachtet. Wobei ich einschieben muss, dass Mutter wahrscheinlich eher neben Walter gesessen hatte. Doch wenn ich es mir noch weiter überlege, wird dieser dann doch nicht neben Mutter, sondern bei seiner ersten Frau gesessen haben.
Einigen wir uns also darauf, dass Mutter aus den Tiefen der Travemündener Bucht und Vater vom Melveröder Friedhof aus diese Szene betrachtet haben mögen. Traurig mussten sie sein, als sie auf dieses Ende blickten. Unter großen Schwierigkeiten hatten sich beide im Krieg kennengelernt. In den Wirren der Nachkriegszeit hatte Vater nur dank der von Mutter übersandten Malariatabletten in der Kriegsgefangenschaft überlebt.
Nach dem Krieg haben sie die drei Kinder gemeinsam aufgezogen. Mehrmals mussten sie dank Vaters Job beim Bundesgrenzschutz umziehen, ehe sie 1962 in Melverode das Reihenhaus gekauft hatten. Um das Haus zu finanzieren, verzichteten meine Eltern auf Annehmlichkeiten wie ein Auto oder auch teure Urlaube.
Erst als meine Mutter - gegen den Wunsch meines Vaters - anfing zu arbeiten, begann sie ihren Spleen für Fernreisen auszuleben, was uns drei Kindern und Vater immer zu Spott animierte. Als Vater 1993 plötzlich verstarb und Mutter kurze Zeit später auf Walter traf, argwöhnten vor allem meine Sestras, dass Mutter Vaters sauer zusammengehaltenes Geld verjubeln würde. Diese Befürchtungen waren unnötig. Mutter hatte uns immer noch ein gehöriges Erbe hinterlassen.
Wenn unsere Eltern uns nun also allein bei dieser Szene in der Bank beobachtet hatten, dann mussten sie sich für uns schämen. Wir selbst waren dazu ja offenbar nicht in der Lage. Viel zu sehr waren wir mit uns selbst beschäftigt.
Der andere Gedanke ist auf den ersten Blick dann doch etwas abwegig, aber er kam mir trotzdem in den Sinn. Ich dachte an den 13. Dezember 1989. Da war es arschkalt, es lag schon seit über zwei Wochen Schnee und die Temperaturen an diesem Nachmittag waren unter Null.
DFB Pokal Viertelfinale 1989/90. Eintracht empfing zuhause den VFL Osnabrück und wir standen natürlich dort, wo wir in der Saison immer standen. Auf dem Stehplatz in der Gegengeraden (gab es damals noch, die obere Hälfte der bereits überdachten Gegengerade waren Stehplätze und dort standen auch die Kutten). Wir standen ganz am Rand beim Zaun zur Südkurve. Heuer fängt da der 9er an, wo all die Ultras stehen.
Wir - das waren zumindest Ulli, Kroll, Jürgen und ich. Für dieses Spiel hatten wir uns etwas besonderes überlegt. Da es aufgrund der bereits lang anhaltenden Kälte nicht möglich war, im Freien Bier zu trinken, musste eine Alternative her. Was lag da also näher als Glühwein? Jeder von uns - da waren noch 4 - 5 andere Leute mit dabei - setzte zuhause einen Glühwein an. Mit Schuss selbstverständlich.
Das heißt, jeder von uns schleppte eine Thermoskanne mit Glühwein ins Stadion! Seinerzeit ging das noch problemlos. Denn obwohl es in den 80ern eher mal eine Schelle aufs Freßbrett gab, ging es im Stadion friedlicher als in diesem Jahrtausend zu. Es fehlten halt die Hirnamputierten mit ihren Bengalos.
Ein weiterer Unterschied war der Umgang mit gegnerischen Fans. Da wurden halt auch Schmähgesänge angestimmt (Kühe, Schweine, Os-na-brück!), aber es gab noch so etwas wie Ehre. So konnte es geschehen, dass wir an unserem Platz mit 4 - 5 Osnasen standen und zusammen unseren Vorrat an Glühwein weggenuckelt hatten.
Kommen wir zur Parallele mit der Bank. Mitte der zweiten Halbzeit war der Glühwein alle. Kroll und ich kamen auf die glorreiche Idee, eine Kanne am Bierstand wieder auffüllen zu lassen. Der berühmte Stand am Fuße des Aufgangs zwischen der Südkurve und der Gegengerade, dort - wo über 20 Jahre lang die beste Bratwurst der Bundesliga verkauft wurden, schenkte an diesem Tag Glühwein aus.
"Schütt` die Sosse doch in eins rein!" rief ich dem Mann hinter der Theke noch zu, aber nein... Der Dussel befüllte einen Plastikbecher (0,15 l) nach dem anderen und schüttete deren Inhalt nacheinander in unsere Thermoskanne. So etwas Stures hatte mich damals schon aufgeregt.
Und genau deshalb musste ich beim Geldzählen in der Bank daran denken. So stur wie der Thekenmann seinerzeit zählte und stapelte ich nun das Geld auf die drei Haufen. Ich verspürte genau denselben Zeitraffer wie seinerzeit, als sich die Sekunden in die Unendlichkeit dehnten und Eintracht unter dem Jubel der Fans das 3:1 markierte. Und auch diesmal blieb ich wieder cool. Damals, weil es arschkalt und ich stinkbesoffen war. Heute, weil ich nach all den Jahren (Job und so) abgeklärter geworden bin.
Um das mit dem Pokalspiel kurz zu Ende zu führen: Eintracht gewann mit 3:2 und verlor im Frühjahr das Halbfinale in Bremen. Nach dem Sieg über Osnabrück gingen wir noch in die Eintracht Klause am Schwarzen Berg, wo Jürgen einen seiner bis heute legendären Auftritte hinlegte.
Beim Besteigen des Barhockers bestellte er vier Bier und rutschte doch sofort wieder von demselben herunter. Als er mit dem Arsch auf den Fußboden knallte, hatte er immer noch die vier Finger in die Höhe gereckt, mit der er seine Bestellung untermauert hatte.
Die Sportschau verfolgte ich an jenem Abend vor dem Röhrenfernseher der Kneipe im Stehen. Das Geschehen sah ich doppelt, weil ich dermaßen besoffen war, wie ich es danach nicht mehr hinbekommen habe.
Dieser glückselige Zustand war mir in der Bank beim Abzählen des Geldes leider nicht vergönnt. Dafür zog ich es wenigstens zügig durch. Und ich denke, meine Eltern hätten wenigstens das respektiert, auch wenn sie ansonsten über unser Verhalten in den letzten Monaten entsetzt gewesen sein müssten.

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