Sonntag, 23. Juli 2017

Hartmudo Spezial: Mutter

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So besuchte ich Mutter also erst am 20. September. Ich traf sie in der Reuterstraße, denn Mutter wurde bereits sehr schnell Mittwochs oder Donnerstags in der Vorwoche aus dem Krankenhaus entlassen. Aber vorher hatte ich noch ein Highlight erlebt. Am Sonntag vorm 20. bin ich nach Berlin gefahren, um Family 5 live in Berlin sehen zu können. Zu meinem großen Vergnügen erlebte ich ein sensationell gutes Konzert. Überhaupt war Family 5 genau die Musik, die mich aus der dunklen Ecke, meinen düsteren Gedanken, ziehen konnte. Und da ich bei Urmel auf dem Sofa kurz nächtigte und somit erst Montagmorgen mit dem Zug zurück fuhr, bzw. gleich zur Arbeit durch preschte, war Dienstag der früheste Termin, an dem ich Mutter besuchen konnte.
Wie gewohnt saß sie auf ihrem Bett, als ich kam. Sie fühlte sich erneut sehr matt, klagte erwartungsgemäß über Schlaflosigkeit. Schon seit Tagen würde sie jeweils die ganze Nacht wach liegen und konnte partout nicht einschlafen. Jetzt waren es schon 3 Nächte ohne Schlaf. Ich erinnerte mich an meine Panikattacken von vor 4 Jahren, bei denen ich nachts immer aus dem Schlaf geschreckt war. Ausführlich beschrieb ich Mutter die Geschehnisse zu jener Zeit, hätte mir das allerdings sparen können. Es wäre auch das erste Mal gewesen, dass Mutter einen Rat von ihrem Sohn angenommen hätte.
Zur Schlaflosigkeit von Mutter möchte ich noch etwas anmerken. Denn wenn man da natürlich wie Mutter schon um 20.00 Uhr ins Bett zum Schafen darniedersinkt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Nacht ab 23.00 Uhr zum Tag wird. Das kenne ich selbst von früher noch, als ich mich dummerweise „kurz" um diese Zeit abzulegen pflegte, weil ich aufgrund meines unsteten Lebenswandels einfach platt war.
Mutter schüttelte zu meinen Ausführungen leider wie üblich nur mit dem Kopf, das wollte sie entweder nicht hören oder ich hatte da was nicht mitgekriegt. Anyway, diese Nervosität, die sie nachts nicht schlafen lässt, ist nichts Neues. Nach dem Tod von Walter ging es ihr ähnlich, da hatte sie sogar noch Stimmen gehört und musste sich Psychopharmaka von ihrem Hausarzt verschreiben lassen.
Als ich das erwähnte, konnte sie sich zwar daran erinnern, aber mit der jetzigen Situation hatte das ihrer Meinung nach natürlich überhaupt nichts zu tun. Es wurde also Zeit für einen Themenwechsel. Ich weiß zwar nicht mehr wie und warum, aber irgendwie kamen wir auf Walter zu sprechen, der ja auch mal in der Salzdahlumer lag (wahrscheinlich daher die Verbindung).
Mutter erzählte von den letzten Stunden, bevor Walter verstorben war. Steif und fest behauptete sie, dass er im Augustinum sanft entschlafen sei. Eine Pflegerin hätte ihn dort noch zum Schluss liebevoll betreut. Da war ich richtig entsetzt, denn genau so war es nicht.
Zur Rekapitulation: Meine Löwin und ich waren in Aachen, als mich der Anruf von Berta ereilte. Das war ein Freitag gewesen und ich hatte die Patientenverfügung für Walter an der Backe, deshalb sollte ich unbedingt schnell ins St. Vinzenz Hospital kommen, wo Walter im Sterben lag. Also eben nicht in seiner Wohnung im Augustinum.
Nach unserer Rückfahrt Freitagnacht schaffte ich es letztendlich erst am Samstag Nachmittag, ins Krankenhaus zu fahren. Dort bot sich mir ein gänzlich anderes Bild, als Mutter mir dies jetzt, 3 Jahre später, vermittelte. Von wegen liebevoll und sanft entschlafen. Walter war an eine Maschine angeschlossen worden und krümmte sich alle paar Minuten vor Schmerzen wie ein Aal. Nach Absprache mit der Ärztin wurde die Maschine abgeschaltet und Walter verstarb am nächsten Tag. Sein Gehirn war eh schon tot, lediglich primitive Körperfunktionen waren vorhanden gewesen.
Was faselte Mutter da nur für einen Blödsinn. Ich war mir sicher, das sie geistig mehr und mehr nur deshalb abbaute, weil sie aus ihrem Zimmer nicht mehr rausging. Die Story mit dem Rummicub fiel mir da wieder ein. Da musste ich sie einfach wachrütteln, oder nicht?
Und erfreulicherweise drang ich zu ihr durch, oh Wunder. Mutter riss sich zusammen und wollte zu den Anderen in den Speisesaal zum Kaffee trinken gehen. Dazu musste sie allerdings zuerst die Hose über ihre stark bandagierten Knöchel ziehen. Sie war fast am Verzweifeln, weil sie die Hose nicht drüber bekam. Selbstverständlich half ich ihr dabei, da musste ich nicht erst lange überlegen. Doch obwohl ich in der Situation keine Berührungsängste hatte, war die Hilfestellung für meine Mutter beim Anziehen der Strümpfe für mich ungewohnt.
Irgendwie kam mir das Ganze seltsam vor, denn für mich war ein derart enger körperlicher Kontakt zu meiner Mutter in all meinen 55 Lebensjahren ungewohnt. Ich kann mich nur noch erinnern, dass sie mich als Kind abends vorm Fernseher gerne mal „killerte“. Damals strich sie sanft über meinen Oberarm; diese Zärtlichkeit hatte ich seitdem von meiner Mutter nie mehr erlebt. Nicht nur die körperliche Zärtlichkeit, sondern auch das damit einhergehende Gefühl, welches ja mehr im Kopf abläuft.
Hier, in diesem Moment, konnte ich dies Mutter irgendwie zurückgeben. Ich bin heute immer noch dankbar für diesen kleinen Moment, in dem ich mich Mutter näher verbunden fühlte als jemals zuvor in meinem Leben. Das dies der letzte Tag war, an dem ich Mutter lebend sah, wusste ich an dem Nachmittag natürlich nicht. Ein intimer Moment, der zwischen ihr und mir selten genug vorkam.
Beim folgenden Anziehen der Hose kam es zu Komplikationen, da diese für Mutter`s geschwollene Beine leider etwas eng war. „Schuld" an der zu engen Hose hatte lt. Mutter natürlich Sunny, die die Hose angeblich zu heiß gewaschen hatte. Tatsächlich lag es wohl eher an ihren ab den Knien abwärts bandagierten Beinen. Zwei Mal täglich wurde Mutter von den Pflegekräften des Heims gewickelt, weil das Wasser sich leider dort wegen des Leberkrebses stark ansammelte.
Im Speisesaal setzte ich Mutter an ihrem Tisch hinten in der Ecke ab, weil ich noch in Ruhe mit der Pflegedienstleitung sprechen wollte. Die Leiterin war sehr freundlich und klärte mich über den Gesundheitszustand von Mutter umfassend auf. Das Wasser in den Beinen hatte ich ja schon erwähnt.
Deswegen empfahl sie mir, die Pflegestufe 2 zu beantragen. Der Krebs schreitet halt weiter fort. Zusätzlich riet sie mir zur Rücksprache mit Mutters Hausarzt. Der wäre da ganz verständig. Ich hatte da zwar eher einen anderen Eindruck gewonnen und sagte ihr das auch, aber ein Gespräch mit ihm würde trotzdem nützlich sein.
Das war auf jeden Fall eine ganze Menge an Informationen. Mein Besuch bei Mutter neigte sich nunmehr dem Ende entgegen. Ich setzte mich noch kurz zu ihr an den Tisch im Speisesaal. Die Küchenhilfe bot Mutter noch Kuchen an, den sie aber ablehnte. Am Nebentisch unterhielten sich zwei Damen angeregt, dement waren die auf keinen Fall.
Als ich Mutter dies erklärte, winkte sie nur ab. Die wären arrogant und überhaupt so richtig eingebildet. Mutter konnte auf die beiden Frauen überhaupt nicht wechseln, fuhr aber mit ihrem Rollator mit zum Eingang, um sich zu den Anderen zu gesellen, die davor herumlungerten.
Na endlich, dachte ich da noch erfreut. Sie hatte meine Kritik endlich einmal angenommen und riss sich zusammen, ließ sich auch nicht so hängen. Doch leider war kein Platz mehr frei und auch die Mitbewohner machten keine Anstalten, für Mutter etwas Platz zu machen.
Anstatt deshalb loszubrüllen und die sturen Heimbewohner zur Ordnung zu rufen, blieb ich erstaunlich ruhig. Schließlich wollte ich Mutter das sich anbahnende kleine Schwätzchen nicht kaputt machen. Irgendwie zwängte sie sich dann doch noch ran und setzte sich auf ihren Rollator. Jetzt war auch ich zufrieden und konnte frohgelaunt nach Hause fahren.
Doch am Mittwoch, also am nächsten Abend, rief mich Berta konsterniert an. Mutter bekam Morphium gespritzt, weil sie so starke Schmerzen hatte. Das Gespräch mit dem Hausarzt war nun unerlässlich geworden. Zusätzlicher Stress entstand dann noch durch eine Mail vom Veranstalter der Spreeschifffahrt mit den Trantüten am Samstag. Der Veranstalter musste den Termin stornieren, weil auf dem Wasser eine Demo wegen irgendwelcher Rechte der Anleger stattfinden sollte.
Toll, wir hatten die Zugfahrt schon gebucht und konnten ergo den Termin nicht mehr canceln. Da würden wir uns was einfallen lassen müssen. Am wichtigsten allerdings waren jetzt Mutter`s Angelegenheiten, sprich der Hausarzt und die Erhöhung der Pflegestufe. Das würde ich am nächsten Tag telefonisch anschieben müssen.

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