Mittwoch, 13. Oktober 2021

Sam Phillips

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Jerry Lee Lewis und sein Vater Elmo aus Ferriday, Louisiana, hatten im Oktober 1956 alle Eier von ihrer kleinen Farm verkauft, um sich die Reise nach Memphis leisten zu können, wo Jerry bei Sam Phillips vorspielen wollte. Obwohl seine Eltern bettelarm gewesen waren, hatten sie Jerry ein Klavier kaufen und sogar Klavierunterricht bezahlen können. Nur an die Bibelschule, auf die sie ihn geschickt hatten, konnte Jerry sich nicht gewöhnen, so dass er dort aufgrund seines Verhaltens entlassen wurde.
Allerdings schien Jerry beim Vorspielen in den Sun Studios Pech zu haben. Sam Phillips war in Urlaub (!) gefahren und so musste Jerry mit dem Mitarbeiter Jack Clement vorlieb nehmen. Dieser hatte mit Fernwood Records zunächst ein eigenes Tonstudio in einer Garage eingerichtet und seine Aufnahmen zum Abmischen an Sam Phillips geschickt. Sam Phillips war von den Qualitäten des begnadeten Toningenieurs so überzeugt, dass er ihn bei sich einstellte. Mit Clement kam dann auch Billy Lee Riley zu Sun Records.
Sun Records war dank seiner Erfolge mit Johnny Cash und Carl Perkins zu einer nationalen Größe gewachsen. Mit seiner bisherigen One.-Man-Show konnte Sam Phillips dies gar nicht mehr bewältigen. Er wollte eigentlich immer nur Radio machen, das war immer sein sein Traum gewesen. Als Tontechniker war er lediglich ein begabter Amateur gewesen; mit der Einstellung von Jack Clement als Toningenieur wurde dies offensichtlich, denn ab nun entstanden eine Vielzahl von Rockabilly Klassikern unter der Regie von Jack Clement.
So erwies sich die Abwesenheit von Phillips als Glücksfall für Jerry Lee Lewis. Als Clement Lewis zunächst nach seiner Gitarre fragte, antwortete dieser, dass er am Piano in der Art wie Chet Atkins an seiner Gitarre spiele. Und dies stellte Lewis Clement dann bei dessen erster Session als Produzent am 4. November 1956 unter Beweis.
mit Jerry an dessen Workstation

Ausgerechnet in einer Pause entstand mit „Crazy Arms“ das erste Ausrufezeichen von Lewis. Billy Lee Riley war zufällig dazu gekommen und begleitete Lewis, Roland James und Jimmy van Eaton. Als Clement diese Aufnahme später Sam Phillips vorspielte, zeigte Sam Phillips sofort seinen Instinkt für Hitpotenzial und nahm Lewis unter die Fittiche von Sun Records.
Obwohl sich „Crazy Arms“ lediglich regional gut verkaufte, band Phillips Jerry Lee Lewis langfristig an Sun Records und besorgte ihm Anfang 1957 Engagements als Studiomusiker und bei Auftritten, wo er nur konnte. Jack Clement wiederum produzierte Jerry Lee Lewis bis zum Mai 1959. In dieser Zeit entstanden die Millionseller „Whole Lotta Shakin` goin on“, „Great Balls of Fire“ und „Breathless“.
Clement erwies sich als sehr eigensinnig und wurde von Sam Phillips im März 1959 entlassen, weil er nach Phillips`s Meinung zu konservativ produzierte. In späteren Interviews gab Jack Clement zwar Sam Phillips Recht, aber ich glaube eher, dass es Sam Phillips mehr um den ausbleibenden Erfolg der anderen Sun Künstler ging.
Denn neben Jerry Lee Lewis wurde lediglich das Instrumental „Raunchy“ von Bill Justis zum Hit. Dieses Herzensprojekt von Sam Phillips (von ihm selbst produziert) zeichnete sich durch seine „Twangin` Guitar“ aus und erreichte in den Billboard Charts Platz 2. Da hatte Sam Phillips noch mal einen aus dem Hut gezaubert. Doch ein weiterer, von Sam Phillips geschätzter Musiker konnte sich trotz seines Talents bei Sun Records nicht durchsetzen: Charlie Rich.
Der eher zurückhaltende Rich war ein begnadeter Jazzmusiker, dessen Aufnahmen kommerziell einfach nicht verwertbar waren. Sam Phillips wollte ihn auf den Sun Sound trimmen, aber all seine Versuche liefen ins Leere. Erst nach seinem Weggang Anfang der 60er Jahre startete Charlie Rich eine Weltkarriere im Countrybereich.
In späteren Jahren zeigte Sam Phillips auch paranoide Züge. So feuerte er Jack Clement, weil er einen Gesprächsfetzen nachts in den Sun Studios falsch verstand und dachte, Clement wollte ihn hintergehen. Phillips hatte wohl ein derart großes Ego, dass er alle Ereignisse in seiner Umgebung ausschließlich auf sich bezog. Kurz: Alles drehte sich um ihn.
Viele Künstler argwöhnten, Sam Phillips hätte sich ausschließlich auf Jerry Lee Lewis konzentriert und ihre Karriere nicht ausreichend gefördert. Von Billy Lee Riley, der dies am lautesten proklamierte, über Roy Orbison bis zu Carl Perkins geht diese Reihe. Guralnick sieht das zwar nicht so, aber ich denke, er hätte z.B. Billy Lee Riley mehr fördern können.
Wahrscheinlich war Sam Phillips einfach nur müde nach all den Jahren des Aufbaus von Sun Records und auch vielen Enttäuschungen. Dafür spricht, dass er sich in späteren Jahren dem Alkohol zuwandte und sich nur noch für sein eigentliches Steckenpferd, dem Radio, interessierte. Sun Records ließ er quasi tot laufen.
Und: Sam Phillips hatte sich eindeutig verzettelt. Nachdem er mit Jack Clement endlich den qualifizierten Mann für die Studioaufnahmen gefunden hatte, der dies mit einer exquisiten Studioband bewerkstelligte, konzentrierte er sich auf seine eigentliche Liebe, das Radio. Und Ende August 1957 beantragte er bei der FFC (Federal Communications Commision) eine Senderkennung.
So gründete er mit WHER (Women in the Housing Ecosystem Report) den ersten Radiosender, bei dem ausschließlich Frauen arbeiteten. Außer seiner Frau Becky und Marion Keisker gewann er noch andere hoch motivierte Mitarbeiterinnen für den Sender. Bedingung für die Radiolizenz war übrigens, dass der Sender keine Platten von Sun Records spielen durfte. Dies ließen die strengen Gesetze seinerzeit nicht zu. Größtenteils hielten sich die Mädels sogar dran.
Durch sein Engagement mit WHER und sein paranoides wie übersteigertes Selbstbewusstsein bekam Sam Phillips gar nicht mehr mit, was sich da stimmungsmäßig bei den Musikern von Sun Records abspielte. Jerry Lee Lewis brachte zwar viel Geld rein, aber selbst die von Phillips hoch geschätzten Carl Perkins und Johnny Cash fühlten sich vernachlässigt, weil sämtliche Energie in die Promotion von Jerry Lee Lewis ging. Am meisten aber litt Billy Lee Riley hierunter.

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