Mittwoch, 23. September 2020

Hartmudo: Mutter

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18. April 2017. Zeit für den letzten Akt unseres Familiendramas. Wir trafen uns im Heidberg in der Nord LB Filiale, um das Konto unserer Mutter bei der Nord LB aufzulösen. An diesem Dienstag machte ich schon um 14.00 Uhr Feierabend, weil mir noch einige Sachen durch den Kopf gingen und ich in Ruhe noch etwas sinnieren wollte, bevor um 17.00 Uhr bei der Nord LB das finale Treffen stattfinden sollte.
Zum Sinnieren: Mir gingen die Geschehnisse der letzten Monate durch den Kopf. Dieses leidige Misstrauen zwischen uns Geschwistern, welches hauptsächlich bei Sunny überproportional stark ausgeprägt war, konnte ich immer noch nicht verstehen. Egal wie oft ich mein Gehirn zermarterte, ich kam einfach nicht drauf. Der ganze Hustle war dermaßen unnötig, aber eigentlich auch unvermeidbar gewesen.
Ich hatte das bereits während der gesamten Zeit nach Mutters Tod von Freunden und Kollegen gehört, dass es nach dem Tode des letzten Elternteils häufig zum Streit um das Erbe kommt. Selbst Verwandte, die zuvor noch zusammen viel unternommen hatten, fielen wegen des lieben Geldes übereinander her, als ob es um Leben und Tod ginge. Dabei vergessen diese Leute immer wieder, dass sich ihre Eltern auf keinen Fall solche derben Streitereien ums Erbe gewünscht hätten.
Da sitzt man noch bei der Beerdigung oder der Trauerfeier stumm und andächtig zusammen, spricht das Vater Unser und tröstet einander. Aber kaum ist der angeblich geliebte Mensch unter der Erde, geht das Hauen und Stechen los. Angeblich geliebt deshalb, weil man sich eben nicht gegenseitig an die Gurgel geht, wenn die Mutter gerade mal kalt geworden ist. Auch unsere Mutter würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie uns nach ihrem Tod noch erleben könnte.
Obwohl... so wie Mutter im Allgemeinen drauf war, könnte es ihr tatsächlich egal gewesen sein. Bei näherem Nachdenken würde ich diese Gleichgültigkeit mittlerweile auch meinem Vater unterstellen, der bereits seit 25 Jahren tot ist. Ich weiß, dass meine Sestras dies anders sehen. Aber da greift wohl der alte Grundsatz, dass Töchter immer nach ihrem Vater gehen bzw. zu diesem ein gutes Verhältnis haben.
Mit all diesen Gedanken belastet, stempelte ich um 14.00 Uhr in Salzgitter aus und fuhr mit Bahn und Straßenbahn ins Heidberg. So um Drei stieg ich auf der "Brücke" aus. Die Brücke über die B4 nach Wolfenbüttel, die Heidberg und Melverode verbindet. In meiner Kindheit gab es zwar schon den Abzweig nach rechts zum Schlesiendamm, aber da war die Straßenbahnlinie 1 nach Stöckheim erst in Planung gewesen und wir Kinder konnten nach Herzenslust auf der Brachfläche namens Schlesiendamm Sommer wie Winter spielen.
Beim Aussteigen auf der Brücke musste ich unwillkürlich an Veit, meinen Freund aus Kindertagen, denken. Denn dort, wo sich die Straßenbahnschienen gen Heidberg oder auch Schlesiendamm gabelten, stand ein Wetterhäuschen zum Unterstellen bei schlechtem Wetter. Dort trafen wir uns, wenn die Eintracht, eine von vielleicht 5 Spitzenteams der ersten Bundesliga, Samstags um 15.30 Uhr ein Heimspiel an der Hamburger Straße ausgetragen hatte. So gegen 14.00 Uhr, meine ich, trafen wir uns zumeist dort.
Im Stadion selbst nahmen wir vor Anpfiff lediglich eine Bratwurst am Stand von Fichtelmann beim Südkurvenaufgang an der Gegengerade. Denn da standen wir immer: Auf der Südkurve (Schüler Eintritt 6,00 DM) am Zaun zur Gegengerade, möglichst weit oben. Wir, dass waren neben Veit und mir noch der Rest von ACHMUK80, wie wir unsere damalige Cique nannten.
Natürlich standen wir dort nur während der ersten Halbzeit, wenn unsere Eintracht auf die Südkurve spielte. Zur Pause gingen wir immer rüber - in die Nordkurve hinter das Tor. Platz war ja immer genug. Ich denke da an die Saison 1976/77, als die Eintracht fast deutscher Meister geworden wäre. Tabellenführer 3 Spieltage vor Schluss - vor Gladbach und Köln. Drei Siege hätten gereicht, aber Willi Reimann machte im drittletzten Spiel kurz vor der Halbzeit das 1:0 für die Hamburger (auf die Südkurve) und das war es gewesen. Auch ein 6:0 gegen Rot Weiß Essen im letzten Spiel half da nichts mehr, weil Gladbach ein Punkt und Schalke in der Tordifferenz besser waren.
Bei einem Zuschauerschnitt von seinerzeit 12.000 ging in der Pause ein Wechsel der Kurve noch, zumal die Sicherheitsbestimmungen in den 70ern bei Weitem nicht so streng waren. Geprügelt wurde sich wohl damals auch schon, aber es stand eben nicht in den Medien. Nach dem Spiel fuhren wir mit der Straßenbahn immer brav nach Hause. Später, als wir auch schon am Saufen waren, ging es nach den beliebten Flutlichtspielen am Freitag ins Puttchen, um große Altbiere abzupumpen. Heutzutage mache ich ums Altbier einen großen Bogen - sicherheitshalber.
Ihr merkt schon, dass mich die Kindheitserinnerungen in diesem Moment überwältigt hatten. Und das hielt auf dem Weg zur Bank auch weiter an. Hinunter an der Autobahnauffahrt, rechts vorne die Polizeiwache Heidberg im Blick. Und hinter dem großen Parkplatz beginnt das Einkaufszentrum. Hinter der ersten flachen Ladenzeile befand sich damals ein Bolzplatz. Dort spielten Veit, Hamu und ich seinerzeit Fußball. Eins gegen eins, einer im Tor.
In der flachen Ladenzeile, die heute arg verwaist ist, befand sich damals Bäcker Billig. Doch, der hieß so. Dort kaufte mein Vater gerne Brötchen, am Wochenende ging ich dort hin, um für meine Eltern und mich die Frühstücksbrötchen zu kaufen, weil sie mit 9 Pfennig eben einfach nur billig waren.
Auf dem Weg zur Bank ging ich ein Stückchen weiter die Rampe zum eigentlichen Einkaufszentrum hinauf, welches nach dem großen Brand vom Heiligabend 1981 neu gestaltet worden war. Rechts vom Anfang der Rampe befand sich vor wie nach dem Brand die Gaststätte zum Kegelbären. Dort fing meine Mutter einst als Küchenhilfe an zu arbeiten, heute gibt es dort nur noch einen Liefereingang zu der Apotheke.
Gegen den Willen meines Vaters hatte Mutter seinerzeit den Job durchgesetzt. Ich selbst war mit 8 Jahren ja auch schon alt genug, da musste sie sich nicht mehr um mich kümmern. So war das damals, zumindest bei uns zu Hause. Mein Vater hatte Mutter nie etwas abschlagen können. Und Mutter wollte partout Geld verdienen, um reisen zu können. Mit Vater ging das ja nicht, weil der, wie er immer so schön betonte, schon "einmal zu Fuß durch ganz Europa gelatscht sei."
Es war wohl dieses Kriegstrauma, welches mein Vater erlitten haben musste. Meine Mutter musste sich wirklich richtig gelangweilt haben. Sie wollte mehr von der Welt sehen als den Schrebergarten in unserer Straße. Von all den Auseinandersetzungen, die unsere Eltern deshalb geführt haben mussten, bekamen wir Kinder selbstverständlich nichts mit. Ging uns ja auch nichts an.
Ich hatte also noch etwas Zeit und schwelgte weiter in Erinnerungen. Zuerst ging ich nicht die Rampe rauf ins Zentrum hinein, sondern wandte mich nach links zum I Punkt. Veit hatte damals dort mit seinen Eltern im 4. Stock gewohnt, bei ihm war ich nach der Schule fast jeden Tag.
Heute wohnen im I Punkt keine Familien mehr, das ganze Gebäude ist ein einziges Seniorenheim mit angeschlossener ambulanter Pflege - exclusiv also. Aber oben, im 16. Stock, war noch immer ein Restaurant. Mittlerweile heißt es Ivent und ist ein spanisches; Ein paar Mal waren meine Löwin und ich dort auch schon gewesen. Einmal z.B. mit Mutter und Walter eines Abends. Die Aioli mit dem frischen Weißbrot sehe ich immer vor mir, sobald ich nur daran denke. Lecker.
Als ich mich oben an ein Fenster setzte und mich von der knackigen Sonne brutzeln ließ, blickte ich interessiert aus dem Fenster in Richtung Melverode und B4. Mit Jürgen war ich vor ein paar Jahren hier reingestrunkelt, beide sturzbesoffen. Da war hier noch ein Tanzcafe für ältere Herrschaften gewesen, so ein richtiger Anbahnungsschuppen. Die sehnsüchtigen Blicke der tanzenden Omis werde ich mein Leben lang nicht vergessen, als wir (seinerzeit) Mittdreißiger aus dem Fahrstuhl ins Lokal eintraten.
Wir hatten Angst und machten unwillkürlich kehrt. An diesem Nachmittag jedoch, im Ivent, bestellte ich lediglich einen Kaffee und packte mein Tablet aus. Ich schrieb noch etwas an dieser Story weiter, ich war wohl gerade irgendwo in den 30er Kapiteln.

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