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Ich setzte mich dann doch noch zu meiner Löwin mit an den Tisch, weil ich mir bei Sunny und Co am Ende deplatziert vorkam. Sunny und Reiner machten wie immer keine Anstalten, mich in ein Gespräch einzubeziehen. Keine Fragen, wie es mir geht oder was ich sonst so mache. Das machte ich umgekehrt zwar auch schon seit Jahren nicht mehr wirklich ernsthaft, aber einen Versuch startete ich jedes Mal.
Es ist leider so, das die Entfremdung zwischen uns sich wohl seit Haralds Verurteilung zu viereinhalb Jahren Knast und meinem Brief an Harald, in dem ich meine Enttäuschung über sein Verhalten ausdrückte und den Kontakt abbrach, entwickelt hatte. Witzigerweise habe ich jetzt nur noch zu Harald einen guten Kontakt, im Frühjahr werden wir sicherlich auch erneut ins Stadion gehen.
Im Cafe wurde es bald Zeit, zum Schiff zu gehen. Quasi in zwei Gruppen gingen wir den kurzen Weg am Ostpreußenkai entlang. Wenn wir zwischen den Gruppen überhaupt sprachen, dann eher einsilbig. Wie sich fremde Menschen, die sich zufällig anlässlich eines Trauerfalls begegnen und sich logischerweise nichts zu sagen haben.
Die Kapitänin des Schiffes erwartete uns schon vor dem Steg. Sie begrüßte jeden von uns mit würdevollem Blick, ihre langsam und sorgfältig gesprochenen, besser ausgedrückt gesalbten Worte, gingen mir von Beginn an auf den Pisser. Es mag ihr Job sein, so gekünstelt eine professionelle Betroffenheit zur Schau zu stellen. Aber dann doch bitte wenigstens so, das die Unehrlichkeit dabei nicht so penetrant wirkt.
Sie erklärte uns das geplante Prozedere in aller Ausführlichkeit. Die Fahrt bis zur „Abwurfstelle" der Urne würde eine gute halbe Stunde dauern. Dort angekommen, würden wir alle zusammen aus der großen Kabine, in der auch Schnittchen bereitstanden und Getränke an einer Theke geordert werden konnten, herauskommen zum Deck am Heck. Die Kapitänin würde ein paar letzte Worte zur Verstorbenen verlieren und dann die Urne zu Wasser lassen.
Danach würden wir die Abwurfstelle dreimal umkreisen, jedes Mal von einem langen „Tuuut" der Schiffssirene begleitet. Ganz am Schluss würde die Kapitänin die Schiffsglocke läuten lassen, danach geht es auf die halbstündige Rückfahrt. Die Getränke sollten bitte vor Verlassen des Schiffes bezahlt werden.
Um die Schnittchen gab es bereits im Vorfeld dieser Veranstaltung Auffälligkeiten. Eigentlich war es uns egal, ob die Häppchen mit Lachs oder Mett belegt waren. Käse sollte hier natürlich selbstverständlich sein. Da jedoch die Brötchenhälften bereits geschmiert hingestellt wurden, mußten wir die Bestellung für die Fahrt auf dem Kutter am Vortag durchgeben.
Bei dieser Aktion hatte sich Wolfgang oder Reiner wohl verschätzt, beide (oder nur einer von beiden?) bestellte vier Brötchenhälften mit Mett. Da hatten Berta und ich im Vorfeld der kleinen Schiffstour etwas zu lästern. Und dass Reiner sich die letzten beiden Hälften auf der Rückfahrt zum Hafen reinprügeln musste, sorgte noch am Nachmittag auf der Rückfahrt nach Braunschweig für Häme.
Mittags jedoch saßen wir zunächst in der großen Kabine an einem langen Tisch. Berta und ich nebst Partnern saßen auf der rechten Seite, Sunny und ihr Clan links im Durchgang, hinter sich die Urne mit den Überresten unserer Mutter. Und hier endlich fanden wir alle zum Glück ein Thema, über das sich zu reden lohnte.
Genau, die Schnittchen. Über die Frage, ob die Brötchen sofort zu verzehren seien oder erst auf der Rückfahrt, brauchten wir nicht lange zu diskutieren. Da waren wir uns alle einig, nämlich das es sofort losgehen könne. „Die haben ja auch genug Brötchen geordert, da müssen die jetzt anfangen, sonst kriegen sie die nicht alle". Das ging nicht nur mir durch den Kopf, sondern garantiert auch Berta.
Da die Theke sich nun schon mal in meinem Rücken befand, orderte ich schnell ein Stützbier. Reiner und Wolfgang zogen mit. So verrannen dann die Minuten bis zum Ziel unseres kleinen Ausfluges mit belangloser Konversation, um die Stille zu bekämpfen. Jede Gruppe mehr oder weniger nur für sich.
Dörte und Wolfgang waren auf der Hinfahrt die meiste Zeit eh an Deck, um zu rauchen. Oma Sunny kümmerte sich derweil um die Kleine. Auch Reiner fühlte sich wohl bei den beiden Rauchern wohler, blieb doch auch er lange Zeit weg. Dies sehen zu müssen, tat mir dann doch irgendwie leid für Sunny.
Aber meine Schwester Sunny hat eine facettenreiche Persönlichkeit. Wenn man so wie ich oder noch mehr Berta mit zuviel Mitgefühl durchs Leben geht, dann vergißt man nur zu leicht die negativen Charaktere ihrer Persönlichkeiten. Heute würde ich sie glatt als Mutter Zwei bezeichnen, nach all dem, was noch folgen sollte.
Die Qual der zähen Fahrt in der Kabine mit einigen mir fremd gewordenen Menschen wurde nach einer halben Stunde jäh unterbrochen. Außerhalb der Dreimeilenzone stoppten wir und die Kapitänin schnappte sich die Urne; mit gütigem Blick und ruhiger Stimme bat sie uns nach Draußen, aufs Deck am Heck.
Da hatte ich schon mein zweites Pils intus, was wie üblich dazu führte, das sich meine Unsicherheiten in der Kommunikation mit schwierigen bzw. unlustigen Gesprächspartnern verflüchtigen. Jetzt war ich leicht enthemmt, was die Anderen über mich denken mochten, war mir relativ egal.
Also, nicht das ich pöbelte oder mit Sticheleien aufwartete. Nein, einfach drauf los labern und mich nicht drum scheren, was die Anderen davon halten mögen. Fast zwei Jahrzehnte Konsum von Marihuana, was jetzt auch schon eineinhalb Jahrzehnte zurückliegt, hinterlassen halt ihre Spuren, zur Abwechslung mal positiv.
An die genauen Worte der Kapitänin kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich hörte sowieso nicht wirklich zu, da sie mir auf den Zeiger ging. Mutter war in meinem Kopf, jetzt endlich war sie ihrem Walter nah, der ebenfalls in der Bucht von Travemünde lag. Das wollte sie schon, als das Grab meines Vaters auf dem Friedhof unweit der Kapelle, in der auch die Trauerfeier für Mutter stattfand, noch bestand.
Trotz all der nervigen Streiterei mit ihr nach dem Tod von Walter und des anschließenden Bruchs zwischen uns hatte ich ihr das nie übel genommen, dafür hatte ich mehr Verständnis als meine beiden Schwestern. An meinen Vater musste ich denken, und dass er diese Frau über alles geliebt hatte.
Diese Frau, die an anderen Menschen herzlich wenig interessiert war und nur für ihre Reisen gelebt hatte, bald die letzten 50 Jahre lang. Kreuzfahrten hatte sie besonders geliebt, obwohl sie selbst nicht schwimmen konnte. Nun, auf ihrer letzten Kreuzfahrt, musste sie doch ins Wasser. Und das ohne Schwimmring, ohne den sie früher, das weiß ich noch genau, nie in ein Schwimmbecken ging.
Sie bräuchte keine Angst mehr zu haben, unterzugehen und zu ertrinken. Sie war ja schon tot, sogar verbrannt. Möge sie in Feiern ruhen, meine Mutter. Ein Mensch, um den ich im Leben einen großen Bogen machen würde. Das auch so ein Mensch durchaus nett sein kann, ich auch positive Gefühle ihr gegenüber haben konnte, das will ich mir für mein restliches Leben als wichtige Erfahrung verbuchen.
Meine Löwin und ich hatten jahrelang mit ihr und Werner schöne Stunden wie Tage verlebt. In den Jahren war ich stolz auf beide, weil sie ihr Ding - das Reisen - auch noch im hohen Alter durchzogen. Zusammen waren sie lebensfroh und immer guter Dinge, das Gehässige entwickelte meine Mutter erst wieder nach Walters Tod.
Mutter muß sich nicht mehr mit dem Leben quälen, sie wollte auch nicht mehr. Mehr oder weniger einsam war sie in den letzten Wochen und Monaten gewesen, auch wenn sich ihre Kinder erheblich mehr als je zuvor um sie gekümmert hatten. Selbst meine Löwin, die von meiner Mutter sehr enttäuscht worden war, konnte wieder ohne Groll mit Mutter reden.
Doch das Lachen war Mutter am Schluss komplett abhanden gekommen, nicht nur wegen der Krankheit und dem Bewusstsein, das es jetzt zu Ende geht. Am Rollator gefesselt, hatte sie endgültig nichts mehr, für das sich das Leben lohnen würde. Ruhe sanft und friedlich, Mutter. Sei froh, das Du den weiteren Fortgang dieses Dramas um Dein Erbe nicht mehr mitbekommen musstest.
Mit übertriebenen Gesten ließ die Kapitänin Mutters Urne ins Wasser hinab. Nacheinander warfen wir Kinder und ihre Partner Rosenblütenblätter hinterher, Dörte und Wolfgang natürlich auch. Als letzter in der Reihe blieb es mir abschließend vorbehalten, den Korb mit den restlichen Blütenblättern in die See zu schleudern.
Still und andächtig standen wir alle an Deck, als das Boot die drei Runden drehte. Als die Schiffsglocke ertönte, gingen wir wieder unter Deck. Zusammen mit Wolfgang und Reiner trank ich noch 2 Wodka, mir war grad mal danach. Ich kann mich noch an leichte Sticheleien wegen der zuviel bestellten Brötchen erinnern, die sich Reiner noch flugs reinquälte. Der Mann lässt wirklich nichts umkommen.
Würdevoll gab uns die Kapitänin beim Verlassen des Bootes im Hafen noch die Hand; sie spielte ihre Rolle bis zum Schluss. Locker schlenderten wir dann noch zusammen an der Strandstraße entlang. Jetzt war Mutter da, wo sie im Tod sein wollte: Bei Walter.
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