Dienstag, 23. Januar 2018

Hartmudo Spezial: Mutter


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Wir Kinder saßen bei der Trauerfeier in der Nikolaikirche natürlich mit unseren Ehepartnern in der ersten Reihe. Krolls Mutter hätte ich sehr gern an meiner Seite gehabt, aber wir saßen hier ja quasi in einer öffentlichen Veranstaltung, in der die Formen einzuhalten sind. Niemand weiß das besser als Krolls Mutter, die sich im Hintergrund hielt.
Ich blickte genau in Richtung Flucht der Krypta. Durch die Kirchenfenster schien die strahlend helle Sonne des Spätsommers auf das Arrangement mit Mutters Sarg. Auf dem Boden um den Sarg hatte der Bestatter ein purpurnes Tuch drapiert. Verschiedene Kränze und eine Vielzahl von Kerzen waren stilvoll auf dem Tuch platziert.
Mutters Sarg stand leicht schräg auf der linken Seite. Im Vordergrund, also zur Trauergemeinde hin, hatte der Bestatter eine Staffelei mit einem Foto unserer Mutter hingestellt. Das ca. DIN A 4 große Foto zeigte Mutter im Alter von ungefähr 70 Jahren. Eine gute Wahl, denn auf einem Jugendfoto hätten sie die meisten der Anwesenden nicht erkannt. Und ein neues Foto, oder auch nur eines aus den letzten Jahren, wäre nicht wirklich schön gewesen.
Mit fast 93 Jahren (ein Monat fehlte zu diesem Geburtstag) sitzt die Haut halt auch nicht mehr so straff. Außerdem war Mutter nach dem Tod von Walter das Lächeln leider abhanden gekommen. Zusätzlich hatten wir uns ob Walters Tod zerstritten gehabt. Vielleicht hatte sie deshalb in meiner Gegenwart nicht mehr so richtig gelächelt. Jedenfalls sah sie mit 70 Jahren noch ziemlich frisch aus. Das war die Zeit, wo Vater gestorben war und sie Walter kennengelernt hatte.
Wie ich finde, ist das ein guter Kompromiss. Beide Männer, die ihr im Leben etwas bedeutet hatten, sind so irgendwie mit eingebunden. Bei der Predigt des Pastors kam dies nicht ganz so durch, da wurde nur erwähnt, das sie in Walter einen gleichgesinnten Gefährten zum Reisen in die Welt gefunden hatte.
Doch er war mehr als das. Ich glaube auch heute noch, das sie mit Walter ihre späte, aber große Liebe gefunden hatte. Anders als Vater war Walter ein pfiffiges Schlitzohr, wie ich ja beim Hickhack um die Beerdigungskosten und dieses leidige Testament, in dem er mich großspurig zum Nachlassverwalter bestimmt hatte und anschließend leider vergaß, mir mitzuteilen, das dieses Testament gar nicht gültig war, feststellen musste.
Wir hätten seine Wohnung im Augustinum nicht leerräumen dürfen und und und... Egal, Walter zeigte Mutter einiges von der Welt und sie hatten noch 2 glückliche Jahrzehnte zusammen. Außerdem war er ein kontaktfreudiger Mensch, ohne allzu extrovertiert gewesen zu sein. Also das genaue Gegenteil meines Vaters. Walter hatte die Eigenschaften, die Mutter in ihrer Ehe über 40 Jahre lang vermisst haben dürfte.
Der Pastor sprach die einleitenden Worte, danach griffen wir zu den Gesangsbüchern und sangen ein Kirchenlied mit Begleitung der Orgel. Und dann erzählte der Pastor den Lebenslauf von Mutter aus dem wenigen Begebenheiten, die wir Geschwister ihm 3 Tage vorher erzählt hatten. Doch er machte was daraus, er kriegte es gut hin.
Von der Kinderzeit erzählte der Pastor quasi nichts, ganz wenig aus ihrer Lehrzeit als Verkäuferin und etwas mehr aus ihrer Zeit bin Reichsarbeitsdienst in Berlin mitten im Krieg. Für die junge Frau war dies die erste Gelegenheit, aus dem provinziellen Holzminden auszubrechen. Ich denke, an diese Zeit in der Großstadt hat sie Zeit ihres Lebens gerne gedacht. Sie hatte immer so einen verträumten Blick, wenn sie von dieser Zeit berichtete.
Schön ist die Geschichte, wie sie dann Vater kennenlernte. Vater lag mit seiner Einheit, es muss wohl Anfang des Krieges gesehen sein, in Holzminden. Ein Kamerad von ihm brachte Mutter einen Zettel, in dem er darum bat, sich mit ihr treffen zu dürfen. Mutter stimmte zu, sie war wohl auch damals schon immer neugierig gewesen.
Auf einer Holzbrücke zum Soldatenlager auf der Weserinsel bei Holzminden haben sie sich dann wohl getroffen und Händchen gehalten. Ob es für beide die große Liebe war, weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls kamen sie da zusammen. Die Hochzeit fand dann am 22. März 1945 unter widrigen Bedingungen statt.
Zu ihrer Hochzeit konnte Mutter wohl sogar Rosen organisieren, den Hochzeitsstrauss fand sie besonders schön, daran erinnerte sie sich immer gern. Aufgrund eines Bombenangriffes musste die Hochzeitsgesellschaft jedoch in den Wald fliehen. Vater lief sogar noch zurück, um Geschirr und das Essen in den Wald zu tragen, wo dann auch gefeiert wurde. Trotz der Umstände hatten meine Eltern im März 1945 eine schöne Hochzeit, meine Mutter meinte dies jedenfalls noch kurz vor ihrem Tod.
Lange konnten sich beide aber nicht aneinander erfreuen, da mein Vater nur kurz Urlaub von der Front bekommen hatte und Ende März wieder zu seiner Einheit, die da schon in Österreich lag, zurück musste. Der Zug wurde auf der Strecke angehalten und Vater wanderte für 4 Jahre in russische Kriegsgefangenschaft ans schwarze Meer.
Nur durch Zufall erfuhr Mutter später, was aus Vater geworden war. Irgendwie hatte ein Arzt im Lager Kontakt zu Mutter in Holzminden bekommen und schrieb sie an. Vater hatte Malaria bekommen und drohte zu sterben, da im Lager kein Penicillin zu bekommen war. Mutter organisierte dies in Holzminden vom Apotheker und schickte die Medizin in einem Paket ins Lager nach Rumänien. Nur durch das Penicillin blieb Vater seinerzeit am Leben. Diese Begebenheit zeigt mir deutlich, das Mutter für Vater seinerzeit auch Liebe empfunden haben musste.
Als Vater 1949 endlich aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause - also Holzminden - kam, war er erst einmal arbeitslos und musste zunächst in seinem erlernten Beruf als Schneider arbeiten, ehe er dann 1950 oder 51 beim Bundesgrenzschutz anfangen konnte. Er arbeitete letztendlich als Kontrolleur im innerdeutschen Zugverkehr.
Damit einher gingen mehrere Umzüge. Berta wurde noch in Holzminden geboren, Sunny danach in Lüchow-Dannenberg. Ich bin der klassische Nachzügler und wurde Jahre später in Helmstedt geboren, kurze Zeit später verzog meine Familie dann nach Braunschweig. Melverode blieb ihr Lebensmittelpunkt bis zum Schluss, sowohl für meinen Vater als jetzt auch für meine Mutter.
Ende der 60er, der kleine Hartmudo war gerade 8 Jahre alt geworden, fing Muttern wieder an zu arbeiten. Gegen den Willen meines Vaters übrigens, der sich aber nicht durchsetzen konnte oder wollte, wuckte sie abends im Kegelbären in der Küche. Es folgten über die Jahre mehrere Tätigkeiten, bis sie Ende der 80er Jahre in Rente ging. Da war sie schon seit mehreren Jahren bei Horten, das heute zu Galeria Kaufhof mutiert ist, gewesen.
Anfang der 70er Jahre ging es dann mit ihren Reisen los. Bis auf ganz wenige Ausnahmen kam mein Vater nie mit, Mutter fuhr zumeist allein. Bis heute bin ich immer noch stolz darauf, das Mutter der einzige mir persönlich bekannte Mensch ist, der sämtliche Erdteile besucht hat. Nord- und Südamerika, Tunesien, Kenia und Südafrika. Sie war in Australien, auch in China und Indien. Hatte ich Panama schon erwähnt? Von Europa rede ich da gar nicht mehr.
Und da kommt schließlich Walter ins Spiel. Der alte Vagabund und Genießer musste als Waisenkind aufwachsen und war später selbst kinderlos geblieben. Mein Vater war dagegen ein komplett anderer Typ gewesen, denn er wollte immer nur seine Ruhe haben. Stundenlang brütete er abends über seinen Lottoschein und ging dann noch mit unserem Cocker raus. Der Zigarrenraucher wollte auch nie mit meiner Mutter in den Urlaub mitfahren. Sein Kommentar dazu war immer: „Während des Krieges bin ich zu Fuß durch ganz Europa gelaufen, das reicht mir."
Wenigstens war er nicht wie Walter in der Waffen SS, aber wer weiß das schon. Weder Vater noch Mutter hielten es für nötig, ihren Kindern etwas aus dieser dunklen Zeit zu erzählen. Das bedauere ich bis heute, nein, das ärgert mich eher. Ihren Kindern haben die beiden damit wirklich keinen Gefallen getan. Denn zuhause galt das Motto: „Das ist halt so und aus." Bis heute haben wir drei deshalb Probleme, Sachen oder Begebenheiten zu hinterfragen, um Missverständnissen vorzubeugen. Da ärgern wir uns lieber grundlos schwarz.
Meine Schwestern und ich nehmen Tatsachen einfach so hin, wie sie uns erzählt werden. Meine Löwin ist jedes Mal wieder aufs Neue erstaunt, dass ich Hintergründe nicht hinterfrage, wenn mir z.B. ein Freund etwas von beruflichen Problemen erzählt. Oder wenn mein Arzt mir eine Diagnose stellt und anschliessend das Rezept schreibt. Warum, wieso - Hartmudo akzeptiert dies ohne Murren, so wie er es in seinem Elternhaus gelernt hatte.
Aber Anfang der 90er war ich froh, als Mutter nach Vaters Tod Walter kennengelernt hatte, denn ab diesem Zeitpunkt brauchte ich mich nicht mehr um das immer schlecht gelaunte Häufchen Elend zu kümmern. Sie blühte förmlich auf und lachte vor allem wieder, mehr als sie dies in ihrer Ehe getan hatte. Ohne Zweifel hatte sie mit Walter den wirklichen Mann ihres Lebens gefunden. Ihnen blieben mehr als 15 glückliche Jahre zusammen.
Meine beiden Schwestern hatten anfangs allerdings Vorbehalte. Sie hatten Angst, das „Mutter mit Walter das Erbe unseres Vaters durchbringen" würde. Berta verstand dabei erheblich schneller als Sunny, das diese Befürchtung absoluter Nonsens war. Schließlich war es eben nicht Vaters alleiniges Erbe, sondern ihr gemeinsames Vermögen gewesen, um das es ging. Mutter hatte uns 3 Blagen immerhin großgezogen, das hatten meine Schwestern kurzzeitig vergessen. Im Übrigen waren diese Befürchtungen ja haltlos, wie wir spätestens jetzt wissen.
Nach all den schönen Jahren mit Walter, ob auf Reisen oder im Sommer in seinem Haus in Steinhude, kam vor 3 Jahren der bittere Moment, als Walter verstarb. Dies und der anschließende Streit mit mir und meiner Löwin hatte sie verbittert gemacht. Auf meine Bitte hin ging sie zwar zum Altenkreis der Kirchengemeinde in Melverode, aber so richtig wohl fühlte sie sich dort nie.
Menschen waren ihr immer unwichtig gewesen, im Zweifelsfall galt dies auch für ihre Kinder. Aber genug davon, von Toten soll man nicht schlecht reden. Jedenfalls nicht bei der Beerdigung, und davon schreibe ich hier ja.
Als der Pastor mit der Lebensgeschichte unserer Mutter durch war, erklang „La Vie en Rose" von Edith Piaf in voller Länge. Das Lied hatte Sunny richtig ausgesucht, die Stimmung des Liedes passte perfekt. Meine Wenigkeit jedenfalls war voll ergriffen, doch weinen konnte ich trotzdem immer noch nicht. Im Zusammenhang mit der Beisetzung und der Haushaltsauflösung war noch einiges zu organisieren. Schließlich verhinderte meine Entfremdung von ihr nach der Nummer mit Walters Tod , dass ich die Trauer richtig ausleben konnte.
Nach einem weiteren Kirchenlied und dem Vaterunser war der Trauergottesdienst schließlich vorbei.

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