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Nach dem Gespräch mit dem Hausarzt blieb mir abends nicht viel Zeit zum Nachdenken, da wir Dora und Herbert zu Besuch hatten. Wir spielten unsere Solorunde, bei der sich insbesondere meine Löwin durch ein glückliches Händchen beim Ausspielen der Karten hervortat.
Auch der nächste Tag, der Samstag, war voll verplant. Mit den Trantüten führen wir am frühen Morgen im ICE nach Berlin und buchten dort eine Stadtrundfahrt am Alexanderplatz, da ja die eigentlich geplante Bootstour wegen des Streiks der Binnenschiffer ins Wasser fiel. Die bereits vorher angekündigte Demo auf dem Wasser konnten wir beim Blick auf die Vielzahl der Boote, die die Spree blockierten, direkt beobachten.
Berta erzählte mir irgendwann auf der Hinfahrt im Zug ganz kurz über ihren Besuch bei unserer Mutter vom Vortag. Sunny und sie konnten sich davon überzeugen, das Mutter die besagten Morphiumspritzen benötigt. Wir waren uns darin einig, dass wir Mutter am morgigen Tag, also nach unserem Kegelausflug, der sich übrigens bis 21.00 Uhr mit der Ankunft am Braunschweiger Hauptbahnhof hinzog, besuchen würden. Dies könnte die letzte Gelegenheit sein, Mutter vor ihrem Tod noch einmal zu sehen oder sie zu sprechen. Wir wollten Mutter an ihren letzten Tagen einfach noch einmal erleben, so platt sich das anhört.
Da ich dem Alkohol während der Berlin Tour reichlich zugesprochen hatte und wohl auch zu Hause den Abend unter dem Kopfhörer mit lauter Musik und einer Pulle Bier in der Hand beendete, schlief ich tief und fest in den Sonntag hinein. Vom Klingeln des Telefons wurde ich dann abrupt aus dem Schlaf gerissen.
Meine Löwin ging an den Hörer; ich ahnte bereits, wer am Telefon war und warum. So früh am Morgen, es war gegen halb acht, konnte es nur das Heim in der Reuterstraße sein. Und fast war es auchso, denn Berta war am anderen Ende der Leitung. Mutter war verstorben.
Meine Gefühle in dem Moment kann ich nur als „innere Leere" beschreiben. Mit ihrem Tod hatte ich ja bereits gerechnet, mich auch schon damit auseinandergesetzt und abgefunden. Deshalb kann ich ob der schlechten Nachricht nicht von einem Schock sprechen. Ich denke, das ich deshalb auch keine Trauer empfinden konnte, fast mechanisch nahm ich das Telefon und hörte mir an, was Berta zu berichten wusste.
Mutter war gegen 5.30 Uhr verstorben. Die Pflegedienstleitung hatte Berta angerufen und wollte sich bei ihr nochmal melden, wenn der Arzt mit der Ausstellung eines Totenscheins durch war und sie Mutter etwas hergerichtet hätten. Berta würde dann Sunny und mich informieren, so dass wir Kinder uns dort kurzfristig treffen könnten.
Die schlechten Nachrichten nahm ich ruhig und gefasst auf. Ich brauchte auch einige Zeit, um das in meinem Kopf verarbeiten zu können. Mechanisch stand ich auf, machte meine Morgentoilette nebst Reinigung der Schlafmaske und zog mich anschließend an. Danach konnten wir nur noch auf den Anruf von Berta warten. Die Wartezeit zog sich quälend in die Länge. Als ich ungeduldig wurde, rief ich Berta zurück. Meine Löwin und ich wollten dem Heim noch eine Viertelstunde geben - „Aber dann fahren wir los !" Da rief der Pfleger endlich bei Berta an und die machte den Rundruf. Um halb Zehn trafen wir uns dann vor dem Haupteingang des Heims.
Sunny und Reiner waren vor uns eingetroffen und warteten auf dem Bürgersteig. Ich nahm noch Sunny und Berta kurz in den Arm, dann gingen wir zusammen ins Gebäude, um Mutter zum Abschluss noch einmal zu sehen. Nur Reiner blieb draußen, entweder, weil das allein Sache der leiblichen Kinder sei oder weil er keinen Bock hatte. Sucht Euch was aus. Drinnen jedenfalls empfing uns der notorische Peter, der uns die Einzelheiten von Mutters Ableben schilderte.
Am Nachmittag des gestrigen Samstags sah er anhand von Mutters Fingernagelbetten, die sich weißlich gefärbt hatten, dass bei ihr der Sterbeprozess begonnen hatte. Sie war bereits die ganze Zeit voller Morphium gewesen und hatte keine Schmerzen. Er setzte sich wohl eine Zeitlang zu ihr ans Bett und hielt ihre Hand. Davon bekam Mutter wahrscheinlich nicht mehr viel mit, weil sie mit geschlossenen Augen dalag und vor sich hin dämmerte. Gegen Morgen hatte die Nachtpflegerin, die alle Stunde nach Mutter geschaut hatte, Mutter leblos vorgefunden und Peter informiert, der daraufhin ins Heim fuhr und alles in die Wege leitete.
Peter führte uns nach dieser Erklärung in Mutters Zimmer und ließ uns nach ein paar salbungsvollen Worten allein. Da standen wir nun, traurig und stumm. Nachdenklich ob der Macht des Todes, der uns alle irgendwann einholen wird. Mutters eingefallenes Gesicht, das in die Unendlichkeit starrte, flößte mir einen Heidenrespekt vor dem Wunder des Lebens ein. Wie vergänglich sind dagegen unsere alltäglichen Händel, wie unwichtig politische oder wirtschaftliche Fragen angesichts solcher Momente, in denen uns klar wird, das hier ein Leben beendet worden war, das in fast 93 Jahren viel erlebt hatte und jetzt einfach zuende gegangen ist. Alle Erinnerungen und Spuren ihres Lebens werden nach und nach fortgeweht und vergessen sein, nur wenige Augenblicke werden in unserer Erinnerung weiter leben.
Nach diesem kurzen Moment des Innehaltens redeten, nein flüsterten wir schon über die nächsten Schritte, die jetzt folgen müssten. Bud und meine Löwin gingen dann als erste aus dem Zimmer, danach verabschiedeten sich Mutters Kinder von ihr.
Nacheinander traten wir ans Bett und betrachteten unsere Mutter, die wie aufgebahrt dort lag. Peter hatte ihren Körper bis zum Halsansatz mit der Bettdecke bedeckt. Quasi über ihrem Bauch hatte er noch eine Blüte hingelegt, was dem ganzen eine würdevolle Aura verlieh. Und eine Friedfertigkeit, obwohl mich Mutters Gesicht zugegebenermaßen an alte Bilder nach der Befreiung von Auschwitz erinnerte.
Ich trat wohl als Letzter an ihr Bett, hielt inne und versuchte Mutter, ja ihr ganzes Leben in einem Gedanken zu packen, was mir logischerweise nicht gelingen konnte. Sanft streichelte ich ihr mit einem Finger meiner linken Hand über die rechte Wange. Fast war ich erschrocken, weil ihre Haut so wachsartig und kalt war, kälter als die Umgebungstemperatur.
Kurz hatte ich die Assoziation eines ausgestopften Tieres, die Abwesenheit des Lebens war deutlich spürbar. Und wohl erst in diesem Augenblick realisierte ich, das Mutter endgültig von uns gegangen ist und nicht mehr wiederkommen wird.
„Flow My Tears, the Policeman Said." Diese Szene aus dem gleichnamigen Roman von Philip K. Dick fiel mir ein, als der weinende Bulle und Bösewicht des Romans seine tote Schwester in den Armen hielt. Auch mir wurden jetzt die Augen feucht, ich musste auch zwei- oder dreimal trocken schlucken. Doch weinen konnte ich nicht. Als unser kleiner Kater Festus gestorben war, heulten meine Löwin und ich wie Schlosshunde. Nur ein halbes Jahr alt war er geworden. Aber bei meiner eigenen Mutter kann ich bis heute nicht weinen. Wie merkwürdig wir Menschen doch sind.
Vielleicht lag es aber auch an den vielen Sachen, die jetzt noch zu regeln sein würden. Ruhig und gefasst verließ ich Mutters Zimmer und verschloss die Tür. Mit dem Schlüssel gingen wir ins Erdgeschoss zu Peter, um alles Weitere zu regeln. Möge der große Fährmann unsere Mutter auf ihrer letzten Fahrt geleiten.
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