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Dass ich überhaupt bis 6:30 Uhr schlafen konnte, überraschte mich dann schon wieder positiv. Zugegeben, in den letzten zwei Stunden der Nacht wachte ich zwischendurch immer wieder unruhig und fahrig auf. Als ich mich dann endlich fertig gemacht hatte, wartete ich wie ein zum Tode Verurteilter auf seine Hinrichtung.
Es regnete draußen, meine Löwin sollte mich fahren. Je näher die Abfahrt rückte, desto unruhiger wurde ich. Ich zitterte wie Espenlaub und hatte tierischen Bammel. Erst ganz zum Schluss wagte ich es, im Netz nach dem Begriff "Blasenspiegelung" zu suchen.
Übereinstimmend stand dort zu lesen, dass die Einfuhr des flexiblen Rohres schmerzfrei, maximal leicht unangenehm sein würde. Ein Standardeingriff, welcher nach Blut im Urin auf alle Fälle durchgeführt werden sollte, um frühzeitig eine Zystenbildung und damit Krebs erkennen zu können.
Da war sie wieder, die blanke Angst. Beim Kegeln am Vorabend wurde noch über eine angeblich nicht so schlimme Augenlaserbehandlung geredet, mein anderes großes Trauma. Rationell war mir die ganze Zeit klar, dass an diesem Morgen beim Urologen meine Welt nicht untergehen würde, aber gegen meine Ängste kam ich trotzdem nicht an.
Pünktlich zum Termin um 10:30 Uhr stieg ich an der Ampel am Welfenhof aus unserem Auto, um in die Praxis des Urologen zu hetzen. Ich verspätete mich um 3 bis 4 Minuten und stand vor der Bedientheke. Die Sprechstundenhilfe sprach am Telefon noch mit einem Patienten, fast 5 Minuten stand ich regungslos und stumm vor ihr. Dann meldete ich mich an und ergab mich in mein Schicksal. Dachte ich, doch...
"Tut mir leid, wir müssen einen neuen Termin machen. Ihr Termin war um 9:50 Uhr und jetzt kann ich sie nicht mehr dazwischen packen." So die Dame mit der Brille hinter dem Tresen.
Was in diesem Moment in mir vor ging, lässt sich nicht in Worte fassen. Erleichterung, Schock, noch eine Zeit lang Ungewissheit...
"Aber wir hatten doch telefoniert. Ich hatte mir 10.30 Uhr notiert, da müssen wir uns missverstanden haben." Dies sagte ich automatisch und war doch insgeheim erleichtert, dass mir heute das flexible Rohr erspart bleiben würde.
Mein neuer Termin war am 8. November um 9 Uhr, also exakt eine Woche später. Ich scherzte beim Rausgehen noch, dass ich dann morgens leider etwas weniger Zeit hätte, um mich auf den Termin zu freuen. Draußen auf der Straße rief ich auf der Arbeit meine Kollegas an, um diesen Krankheitstag in einen Urlaubstag und den folgenden Montag in einem Krankheitstag umzuwandeln.
Dann kontaktierte ich meine Löwin, die gerade bei Karstadt weilte. Ihr konnte ich ja die ganze Zeit nichts vormachen, dazu kennt sie mich zu gut. Meine Erleichterung war mir jetzt genauso gut anzumerken wie Stunden zuvor die fahrige Gemütslage, bei der sie mich dankenswerterweise in Ruhe gelassen hatte.
Dies meine ich wirklich nicht sarkastisch, denn in solchen Stimmungen bin ich auch unleidlich und besser für mich allein. Zu Mittag aßen wir bei unserem Griechen, danach saß ich zu Hause an meinem Schreibtisch und entspannte mich bei Mario Kart Tour.
Das Telefon klingelte spät am Mittag, die Sprechstundenhilfe das Urologen war am Apparat. "Hartmudo, ich muss mich entschuldigen. Ich hatte sie mit dem Termin um 9:50 Uhr verwechselt, der nicht gekommen war. Die Namen klangen beide so ähnlich. Der Doktor hatte ja viel mit ihnen vorgehabt, da war noch Röntgen vorgesehen. Wenn wir vorhin darüber gesprochen hätten, dann wäre mir das sicher aufgefallen," sagte die spürbar zerknirschte Dame am anderen Ende der Leitung.
Ich war verwirrt. Was soll das heißen, er hatte viel mit mir vorgehabt? Ruhig, Brauner, keine Paranoia jetzt. Es ist Zeit, einen lustigen Spruch zu machen. "Das macht doch nichts, kann ja mal passieren. Nicht, dass er sie noch schlägt. Wenn ich nicht verheiratet wäre, müssten sie mich jetzt zum Essen einladen. Alles gut, da habe ich noch eine Woche, um mich auf den Termin zu freuen," improvisierte ich.
Was hatte mich hier schon wieder gerissen? Musste dieser billige Chauvi Spruch wirklich sein? Manchmal geht es aber auch mit mir durch. Wenigstens hatte ich nun die Gewissheit, das nicht ich vor lauter Bussigkeit einen falschen Termin notiert hatte.
Zum Glück sprang die Arzthelferin nicht darauf an. Sie sagte nur lakonisch: "Na gut, dann bis nächsten Montag. Könnten Sie vielleicht auch schon um 8:30 Uhr? Denn wenn das Röntgen noch dazu kommt..."
Ich überlegte da nicht lange und antwortete: "Kein Problem, können wir so machen. Dann bis nächste Woche."
Jetzt war ich dann doch etwas verwirrt, so etwas hatte ich noch nie erlebt. Wahrscheinlich lag es an der medizinischen Maske, die in diesem Coronazeiten Vorschrift ist. Entweder man selbst nuschelt oder der Zuhörer bekommt nur ein gedämpftes Rauschen mit. Egal, jetzt konnte ich noch eine Woche zittern und meiner Paranoia frönen.
Wobei ich sagen muss, dass diese Woche relativ angstfrei verlief. Auf der Arbeit ärgerte ich mich wie üblich und zu Hause hatte ich weder Angstzustände noch schlaflose Nächte. Am Sonntag, den Tag vor dem Termin, chillte ich zu Hause und kümmerte mich um meinen Schreibtisch. Abends schauten wir noch einen sauschlechten Tatort aus München, davor hatte ich eine total aufgelöste Bekannte am Telefon, bei deren Mann die Metastasen neu ausgebrochen waren.
Da gingen in meinem Hinterkopf schon wieder einige Lampen an, aber es gelang mir, ruhig zu bleiben und Batic und Leitmayr zu überstehen. Später lag ich im Bett, las noch etwas in meinem Buch und schaltete relativ früh das Licht aus. Problemlos schlief ich ein.
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