Dienstag, 24. Dezember 2019
H. Lecter – Garagenhof 1/2
Anfang August traf ich UMD auf der Geburtstagsparty von Patti. Er erinnerte mich an ein altes, gemeinsames Erlebnis aus frühen Tagen und bat mich, dies zu skizzieren. Gern komme ich diesem Wunsch nach, zumal ich bislang eher wenig - oder zumindest seit längerer Zeit nicht mehr – über die glückliche Zeit unserer Kindheit berichtet hatte.
Wir sprechen da über eine Zeit, als die Sommer noch schön waren, ohne dass wir uns eincremen mussten, um keinen Sonnenbrand zu bekommen. Eine Zeit, in der im Winter immer genügend Schnee zum Schlittenfahren vorhanden war. Kurz und gut: Ende der 60er Jahre war die Welt noch in Ordnung.
Seinerzeit trafen wir uns immer draußen zum Spielen. Häufig habe ich zu der Zeit mit Kroll und Jopi, die ja beide in der vorderen Reihe der Blöcke an Reihenhäusern gewohnt hatten, gespielt. Aber eine Zeitlang waren Kroll und ich auch in der dritten Reihe dieser Blöcke unterwegs gewesen.
Dieser Block war die Trachenbergstraße. Und dort, vor dem Hauseingang Nr. 4, saßen wir dann häufiger zusammen. Außer Kroll und mir noch UMD, der im nächsten Block, der wieder zur Militschstraße gehörte, wohnte. Ja, wir saßen vor dem Haus von Welkers; mit Petra Welker und von Liebe wussten wir nicht viel.
Petra war schon etwas älter als wir, aber auch noch nicht voll entwickelt. Ich kann mich noch dunkel an einen Abend erinnern, an dem wir 3 Jungs mit Petra abends bis Anbruch der Dunkelheit auf den Treppenstufen zur Eingangstür saßen und einfach nur erzählten. Heute sind wir alle drei über 50 und würden sicher wieder gern mit Petra auf der Treppe sitzen, um ein bisschen zu plaudern und zu scherzen. Nur plaudern, denn wir sind ja auch schon über 50. Wer weiß, ob wir mit 20, 30 oder gar mit 40 Lenzen mit Petra nur hätten plaudern wollen. Also mit einer Petra, die schon voll entwickelt gewesen wäre.
Und heute? Der Name Welker klingt ja auch schon nach vergangener Blüte, da dürfte eine nette Plauderei genau das richtige sein. Wir würden uns mit Petra auf alle Fälle über Krüger unterhalten müssen, einem Mann, der in UMDs Reihe wohnte und Ende der 60er Jahre eine für unsere Entwicklung außerordentlich wichtige Funktion wahrnahm.
Denn Krüger war der Kinderschreck! Wenn wir Kinder laut juchzend über den Garagenhof tobten, der sich am Ende der Trachenbergstraße anschloss, dann kam er irgendwann immer mit lautem Gebrüll angelaufen, um uns einen gehörigen Schrecken einzujagen. Mit befehlsgewohnter Stimme forderte er uns auf, doch gefälligst leise zu sein.
Das sahen wir selbstverständlich immer sofort ein. Deshalb klingelten wir auch ab und an gern mal an seiner Tür, um uns zu vergewissern, dass er auch zu Hause war. Auch skandierten wir häufig aufmunternde Sprechchöre wie „Krüü – ger, Kinderschreck!“ Leider missdeutete Krüger unsere Sympathiekundgebungen vollkommen und beschwerte sich bei unseren Eltern häufiger mal über die rotzfrechen Gören.
Richtig unangenehm wurde es regelmäßig, wenn Krüger uns den Ball abnahm. Wir als gefühlt zukünftige Nationalspieler kannten zwar den später gern bemühten Begriff des Straßenfußballers noch nicht, aber tatsächlich waren wir aus jenem Holz geschnitzt. Aus Ermangelung einer Rasenfläche zum Bolzen mussten wir wohl oder übel mit dem Garagenhof vorlieb nehmen.
Da sich die Garagen in langen Reihen gegenüber standen, waren die Garagentore wie gemacht, um die fehlenden Fußballtore zu ersetzen. Der Abstand von Tor zu Tor betrug zwischen 20 und 30 Metern; ideal also für uns kleinen Knirpse, zumal seinerzeit noch nicht an Tempofußball zu denken war. Denn auf die Technik kommt es an. Ob beim Fußball oder Petra Welker (voll entwickelt), wobei wohl keiner von uns Petra getroffen hatte, als sie voll entwickelt war.
Eine Trennung von Damen- und Herrenfußball gab es bei uns nicht. Seinerzeit war Frauenfußball sogar noch verboten gewesen; uns scherte das nicht. Bei uns waren die Mädchen schon gleichberechtigt gewesen, ohne dass wir von Oswald Kolle auch nur irgendetwas gehört hätten.
Und die Mädchen spielten genauso gut oder schlecht wie wir Jungs. Wenn sie den Ball in das Tor reinhämmerten, schepperte es in derselben Lautstärke wie bei uns auch. Natürlich begriffen die Mädels erst sehr spät, dass es sinnvoll ist, den Ball in einer gewissen Höhe aufs Tor zu knödeln. Denn da wir alle grad mal nen Kopf größer als ein Erdnuckel waren und somit die oberen Regionen des Tores als Torwart nicht erreichen konnten, war es relativ einfach, ein Tor dank entsprechender Schusstechnik zu markieren.
Sicherlich gelang es den Mädchen höchst selten, auf diese Art und Weise ein Tor zu erzielen. Den Fuß unter den Ball zu treten und die Pille dann in die obere linke Ecke zu schippen lag ihnen fern. Nun gut, im späteren Leben mussten sie ja auch keinen hoch kriegen.
Ja, es war wirklich noch die gute alte Zeit, in der Wert auf eine Mittagsruhe von 13.00 bis 15.00 Uhr gelegt wurde. Nur leider waren wir mittags in der Regel gerade von der Schule nach Hause gekommen und von unseren Müttern verköstigt worden, wobei ich ab Mitte 1969 schon Schlüsselkind war. Und das lag nicht daran, weil meine Mutter da gerade in Woodstock weilte, sondern weil sie als Aushilfe in der Küche des Kegelbären angefangen hatte. Mein Vater musste damals dazu noch seine Zustimmung erteilen – verheiratete Frauen durften das nicht so einfach mal eben machen. Die gute alte Zeit halt…
Egal, auch wenn ich mich selbst verköstigen musste, schaffte ich es anschließend auch immer, die Hausaufgaben auf einen späteren Zeitpunkt am Tage zu verschieben. Wie bei den anderen Kindern auch galt es erst einmal, den Spieltrieb zu befriedigen. Das ging natürlich am besten beim Bolzen auf dem Garagenhof in der Mittagsruhe, um unsere überschüssige Energie abzuleiten.
Ein weiterer positiver Aspekt unserer Aktivitäten bestand darin, Krüger eine sicherlich willkommene Abwechslung in seinem drögen Alltag zu bescheren. Mit jedem Bollern des Balls gegen ein Garagentor wurde sein Kreislauf sanft angeregt. Der kurze Jogginglauf hin zu uns forcierte sicherlich auch seinen Stoffwechsel. Sein dabei laut gebrülltes „Euch wird ich helfen, Ihr Racker“ würde ich heute als Tai Chi mäßige Übung zur Reinigung von Körper und Geist bezeichnen.
Wenn Krüger also laut brüllend um die Ecke bog, fühlten wir uns genötigt, unverzüglich Fersengeld zu geben. Ohne es absprechen zu müssen, zerstreuten wir uns wie die jugoslawischen Partisanen in den Jahren der Blütezeit unserer Eltern in sämtliche Richtungen, meistens zwischen den Garagenblöcken auf der Seite des Schlesiendamms. Denn der Schlesiendamm war zu der Zeit eine brach liegende Fläche mit viel Gestrüpp und somit ebenso vielen Verstecken. Krüger hatte da keine Chance.
In seiner Verzweiflung schwärzte er uns stattdessen bei unseren Eltern an. Der eine oder die andere mag daraufhin im zarten Vorgriff auf die später folgende antiautoritäre Erziehung ein böses „Du Du“ zu hören bekommen haben, geholfen hatte dies allerdings nur wenig.
Deshalb verlegte sich Krüger auf die (illegale) Beschlagnahme des Balls und warf denselben auf eines der zahlreichen Garagendächer. Dank dieser Maßnahme lernten wir schon frühzeitig die Räuberleiter als Problemlösung zur Überwindung ansonsten unüberwindlich erscheinender Problemstellungen schätzen.
Als wichtige Aufstiegshilfe diente uns hierbei eine Teppichstange, die in ca. 2 Meter Höhe zwischen zwei Garagenblöcken an der Schlesiendammseite angebracht war. Und diese Teppichstange ist der eigentliche Grund, weswegen mich UMD auf Pattis Geburtstagsfeier angesprochen hatte.
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