Dienstag, 23. Mai 2017

Hartmudo Spezial: Mutter

10
Nach dem Besuch im Curanis Heim am vorigen Tag in Stöckheim fuhr ich mit gemischten Gefühlen zu Mutter. Und wieder saß sie gedankenverloren in ihrem Zimmer. Ich fasste für sie nochmals die Vorzüge des Curanis Heims zusammen und erinnerte sie daran, das sich der Heimbeirat des Augustinums gegen die Aufnahme einer 92jährigen Frau ausgesprochen hatte.
Mir war immer noch Sunny's Schelte im Gedächtnis. Die Aufforderung, Mutter notfalls anzulügen, falls sie nach wie vor ins Augustinum wollen würde, schmeckte mir nicht. Sunny hatte in der Sache ja Recht, aber mir widerstrebt es einfach, meine Mutter anzulügen, selbst wenn es zu ihrem Besten ist.
Aber all meine Befürchtungen waren unbegründet. Mutter sagte zu mir, das sie ja eigentlich niemanden im Augustinum kennen würde. Walter und sie hatten sich in all den Jahren von den anderen eher abgesondert und waren nach Möglichkeit selten im Augustinum. Dazu kommt noch das „Verstecken" der Dementen in einem abgeschlossenen Raum, damit diese niemanden stören. Mutter wirkte sehr nachdenklich an diesem Nachmittag.
Mir dagegen fiel ein Stein vom Herzen. Wie bereits von Berta am Vortag erwähnt, würde sie in Stöckheim in ihrer alten Umgebung sein können. Berta bot Mutter ja auch an, sie einmal in der Woche zu ihrem Altenkreis in der Melveroder Kirchengemeinde zu bringen. Hinzu kommt, das die Straßenbahn der Linie 1 nur ca. 200 Meter entfernt am Markt abfährt. Da würde sie mit ihrem Rollator gut hinkommen können.
Mutter kommentierte dies nicht, sagte aber, das sie ins Curanum nach Stöckheim wolle. Sie war auch weiterhin genervt von den anderen Bewohnern des Heims, die sie allesamt für dement hielt. Sie selbst blieb wohl die ganze Zeit in ihrem Zimmer, lediglich zu den Mahlzeiten verließ sie ihr Zimmer.
Ich versuchte immer noch, sie zu mehr Aktivität zu motivieren. Sie könnte ja auch mit ihrem Rollator mal nach Draußen gehen. Um die Ecke ist auch die Gaststätte „Zur Erholung", wo sie auch mal was essen könnte, da ihr der Fraß - wie sie es nannte- im Heim nicht zusagte. Mal waren die Kartoffeln zu hart, mal zu weich... You know?
Nachdem die weitere Unterbringung in Stöckheim von Mutter jetzt angenommen war, brauchten wir nur noch auf ein freies Zimmer dort zu warten. Ab sofort verlegte ich meine wöchentlichen Besuche auf Dienstags, weil ich Mittwochs wieder in die Mukkibude gehen wollte.
Am 30.8. war ich sogar freudig überrascht, weil Mutter Besuch hatte. Die Frau hieß Renate und war ein Mitglied des Altenkreises der Melveroder Kirchengemeinde. Irgendwie war sie an die Adresse von Mutter gekommen. Halt, jetzt weiß ich es wieder: Berta hatte dankenswerterweise dort Bescheid gesagt.
Renate stellte sich als herzliche und mitfühlende Zeitgenossin heraus, die sich liebevoll mit Mutter unterhielt. Allerdings hatte ich doch den Eindruck gewinnen müssen, dass die Unterhaltung eher einseitig verlief. Denn Mutter nickte immer nur mit einem leisen Lächeln, wenn Renate etwas sagte. Sie selbst blieb still.
Eigentlich hatte ich mich mehr mit Renate als mit Mutter unterhalten; Mutter blieb äußerst passiv und wirkte auch sonst eher verträumt. Irgendwann verabschiedete sich Renate, versprach aber, alle zwei Wochen vorbeischauen zu wollen. Anschließend unterhielt ich mich kurz noch mit Mutter, aber etwas Neues wusste sie auch nicht zu berichten. Nach einiger Zeit wurde sie müde und wollte sich hinlegen.
Das war dadurch ein unerwartet kurzer Besuch. Und auch am nächsten Dienstag, den 6. September, waren Mutter und ich nicht allein. Doch zuerst konnte ich mich an diesem Tag von Mutters schlechteren Gesundheitszustand überzeugen. Ihre Beine waren wegen des Wassers angeschwollen, außerdem war sie immer schlechter akustisch zu verstehen.
Sie sprach mit kratzender Stimme und konnte einzelne Worte nicht mehr deutlich artikulieren. Ich schob diese Verschlechterung auf ihre selbst gewählte Isolation und war entsetzt. Ich bedrängte sie intensiver als zuvor, an Aktivitäten teilzunehmen und sich nicht zu verkriechen.
Denn in diesem depressiven Zustand hätte sie in Stöckheim auch keine Freude. So machte ein Umzug nun wirklich keinen Sinn. Und auf einmal ging die Tür auf, und eine junge Birkenstockträgerin betrat das Zimmer. Die Animateurin, die Sozialpädagogin war da! Juchhu!
„Na, Frau .... (keine Echtnamen, wisst Ihr doch!), möchten Sie nachher mal bei unserem Kegeln mitmachen?" Die Animateurin fragte freundlich, doch Mutter schüttelte nur lächelnd ihren Kopf. Sie hatte gar keinen Bock und eine gute Ausrede - denn ihr Sohn war ja gerade da.
Doch die Animateurin kannte das von Mutter schon. Sie wusste zu berichten, das Mutter sich eigentlich immer von den Freizeitaktivitäten im Haus ausschließt. Nur ein einziges Mal war sie zum Beispiel beim Kegeln dabei gewesen.
Ich erklärte ihr, das sich Mutter in diesem Heim nicht wohlfühlte, das Heim wechseln möchte und wir auch schon ein Heim für sie gefunden haben. Die Animateurin kommentierte dies nicht und zeigte sich unbeeindruckt. Freundlich versuchte sie es weiter, Mutter zu mehr Aktivität zu motivieren. Vielleicht hätte Mutter ja zum Kartenspielen Lust?
An dieser Stelle konnte ich mich erinnern, das Mutter mit Walter immer gerne Rummicub gespielt hatte. Jeden Nachmittag hatten sich beide zum Kaffee hingesetzt und eine Partie gespielt. Das fand ich immer toll und erzählte dies der Animateurin auch.
„Rummicub, was ist das?" Mutter verstand nur Bahnhof; ich dagegen war erschrocken.
„Aber Mutter", entgegnete ich verwirrt, „Du hattest doch mit Werner jeden Nachmittag Rummicub gespielt. Das hatte Euch beiden doch immer so viel Spaß gemacht.“
„Rummicub? Nein, wir haben nie gespielt. Wir haben uns immer nur unterhalten oder sind spazieren gegangen. Aber Rummicub haben wir nie gespielt." Mutter war sich da absolut sicher. Spielen hatte sie ja noch nie interessiert.
Ich war entsetzt. Mutter hatte das total vergessen. Wahrscheinlich hatte sie immer nur Walter zuliebe gute Miene zum „bösen Spiel" gemacht und mitgespielt. Und dass fast 20 Jahre lang. Mannomann! Oder sie hatte es schlichtweg aus ihrem Gedächtnis gestrichen, weil sie sich immer schon nur auf sich selbst konzentriert hatte und alles um sie herum nur dann interessierte, wenn es für sie wichtig war.
Auch folgendes wurde mir jetzt schlagartig klar: Mutter hatte in den letzten Wochen geistig stark abgebaut und war daher gar nicht mehr weit weg vom „Dämmerzustand" der Dementen, mit denen sie ja selbst nichts zu tun haben wollte. Für diese Menschen hatte sie quasi nur Verachtung übrig. Das klingt jetzt hart, aber Mutter hatte sich zeitlebens gehässig und mies über andere Menschen geäußert, wenn diese nicht nach ihrer „Facon" waren.
Und wenn man sie kurze Zeit später auf solche Gehässigkeiten ansprach, dann war auf einmal alles nicht so gemeint gewesen oder man hätte sie falsch verstanden. Einsicht in ein Fehlverhalten gab es nie. Ich erinnere mich an die Vorfälle nach dem Tod von Walter, als sie dessen Schwägerin aus Florida erst als geldgeiles Weib hingestellt hatte und dies dann auf einmal niemals so gesagt haben wollte, als es für sie vorteilhaft war.
Diese äußerst verachtenswerte Charaktereigenschaft hat Mutter auf alle ihre 3 Kinder vererbt. Jawohl, meine lieben Freunde, auch ich bin vor dieser abwegigen Gedankenwelt meiner Mutter nicht gefeit und neige zu extremen Verunglimpfungen, wenn ich mich verletzt fühle. Zwar tut es mir hinterher immer leid, aber zum Pöbeln reicht es vorher immer.
Sehr nachdenklich fuhr ich an diesem Nachmittag nach Hause. Die Animateurin war nach kurzer Zeit unverrichteter Dinge wieder gegangen und Mutter war dann augenblicklich wieder müde. Mutter versauerte förmlich in der Reuterstraße. Hoffentlich wird im Curanis in Stöckheim bald ein Zimmer für Mutter frei. Andernfalls geht der geistige Verfall rasend schnell weiter.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen