Montag, 17. April 2017

Hartmudo Spezial: Mutter

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Mittwoch. Eins stand jetzt schon fest: Zum Sport würde ich heute nach der Arbeit nicht fahren, Mutter geht vor. Also radelte ich nach der Arbeit in die Reuterstraße, um Mutter von dem Gespräch mit dem Augustinum zu berichten. Wie auch in den nächsten Wochen quälte ich mich durch die Demenzkranken, die im schmalen Eingang saßen und genau beobachten, wer ins Heim rein- oder rausgeht.
Wie üblich saß Mutter auf ihrem Bett. Bei all meinen Besuchen in diesem Zimmer in der Reuterstraße war das so. Und las sie anfangs noch in einem Buch oder hörte zumindest Radio, so sollte sie mit zunehmender Dauer immer matter und erschöpfter regungslos auf ihrem Bett sitzen. Sie wartete wohl nur darauf, endlich aus dieser Einrichtung herauszukommen.
Ihr gefiel es hier in keinster Weise, das betonte sie ja bereits von Anfang an. Als ich ihr das Ergebnis unseres Besuchs im Augustinum schilderte, hörte sie aufmerksam zu. Ich schilderte ihr unsere Bedenken bezüglich des Augustinums. Insbesondere, das der Heimrat der Bewohner etwas gegen den Zuzug einer 92jährigen hätte. Das konnte ich mir nicht verkneifen, zeigte dies doch, das die Einrichtung ihre Bewohner nur so lange schätzt, wie sie noch mobil und eben nicht pflegebedürftig sind.
Hier konnte Mutter einhaken. Eigentlich hatten Walter und sie nie an Aktivitäten im Augustinum teilgenommen. Die Bekanntschaften im Heim beschränkten sich denn auch aufs Begrüßen des Personals an der Rezeption. Und das Härteste war, das Mutter sich noch gut daran erinnern konnte, das die „Dementen" des Augustinums jeden Morgen im Rollstuhl in ein Zimmer im Erdgeschoss geschoben wurden, wo sie den ganzen Tag verbrachten.
Erst abends wurden sie laut Mutter wieder in ihre Zimmer geschoben. Praktisch, denn dadurch sind sie für die anderen Bewohner nicht sichtbar, man kann noch nicht einmal deren Geschrei hören. Das macht die eigentliche Qualität des Hauses aus. Viel zahlen, damit man das Elend um einen herum nicht mitkriegen muss.
Jetzt endlich konnte ich Mutter überzeugen. Sie davon abbringen, unbedingt ins Augustinum zu wollen. Meine rhetorische Frage an Mutter lautete, ob sie sich das wirklich vorstellen könnte, falls sie ihrerseits dement werden sollte. Wäre es dann nicht besser, sie würde wie in der Reuterstraße im Eingangsbereich frei sitzen können, anstatt in einem Zimmer mit anderen Dementen eingesperrt zu sein?
Nach kurzem Nachdenken stimmte sie mir schließlich zu. Ich erzählte ihr dann vom neu eröffneten Heim in Stöckheim. Dazu konnte ich ihr auch Fotos auf meinem Tablet präsentieren, die auch Mutters Zuspruch fanden. Am nächsten Dienstag hätten wir dort einen Termin, da konnte ich ihr Hoffnung machen. Das Berta und Sunny sie zum Termin abholen würden, erzählte ich ihr nicht, wie abgesprochen.
Abends saß ich erst einmal gemütlich zu Hause. Meine Löwin war bei ihrer Mädelstruppe und ich hatte endlich wieder Muße, meine Serie zu gucken. Zur Zeit die zweite Staffel „Better Call Saul". Da riss mich eine Whatsapp von Gundula aus dem Sulky.
Gundula war stinksauer auf mich. Sie hatte von ihrer Mutter gehört, das ich sie alle für „unterbemittelt" halten würde, sie meinte sicher unterbelichtet. Sie hatte mich nicht angerufen, weil sie dann laut geworden wäre. Deshalb drückte sie ihren Ärger, ihre Wut schriftlich aus, damit ich mich auch noch äußern kann. Heute bin ich davon überzeugt, das sie in dem Moment instinktiv ahnte, was für einen Quatsch sie da von sich gab.
Mein Puls raste. Was war das denn jetzt? Ägypten? Wie kam ihre Mutter Berta nur auf dies schmale Brett? Sicherlich hatte ich in letzter Zeit etwas unwirsch reagiert, wenn ich mit Berta über Mutter und besonders das weitere Vorgehen zu ihrer bestmöglichen Versorgung, also Unterbringung, sprach. Da fuhr ich ihr häufig aggressiv in die Parade, so wie ich leider das unter Stress auf der Arbeit mit meinen Kunden mache.
Eine schlechte Charaktereigenschaft, die wir drei Geschwister übrigens alle geerbt haben - von unserer Mutter. Manchmal kann ich mich phasenweise mit dem Rumpoltern zurücknehmen, aber bei dem ganzen Hustle um Mutter vergaß ich diesbezüglich sämtliche guten Vorsätze. Schließlich ist niemand unendlich belastbar.
Ich halte weder Berta noch Gundula für dumm, auch nicht den Rest der Familie. Aber ich habe schon immer ein Problem damit gehabt, wenn jemand nicht in der Lage ist, rationelle Entscheidungen zu treffen, wenn es nötig ist. Das macht mich aggressiv. Durch meinen Job habe ich viel mit Leuten zu tun, die eben dazu nicht in der Lage sind, Entscheidungen für ihr Leben zu treffen und dann nur noch rumeiern. Aber genau deshalb werden solche Leute ja meine Kunden.
Seit 25 Jahren mache ich den Job. Und wenn ich privat auch noch mit „Rumeiern" konfrontiert werde, vor allem dann, wenn ich selbst involviert bin - wie bei Mutter - dann poltere ich los. Allen gegenüber übrigens, fragt meine Löwin, die musste auch schon unverdienterweise einige schräge Sprüche von mir ertragen.
Nein, nein, nein. Wenn schon, dann halte ich nicht Berta und ihre Familie für dumm, sondern alle meine Mitmenschen. So arrogant werde ich häufig, wenn ich unter Dampf fahre. Dann kann jeder in meinen Augen ein Idiot sein, da benachteilige ich Niemanden und schließe keinen aus. Ich werde jedes Mal sauer, wenn jemand nicht auf den Punkt kommt und irgendwelche Geschichten erzählt, anstatt Klartext zu reden. Vorzugsweise dann, wenn es wirklich schnell gehen muss. Und dies war bei unserer Sorge um Mutter häufig der Fall. Wenn es darum geht, was genau jetzt zu veranlassen ist, dann sind Sachen wie „das kenne ich selbst, weil das hatte ich selber..." nicht hilfreich. Da werde ich ungeduldig, das dauert mir zu lange. Dann werde ich ungerecht, zumal ich das Rumeiern ebenfalls perfekt beherrsche. Es ist ja nicht so, als ob ich das nicht können würde. Meine Löwin wirft mir das - mit Recht – ab und an vor. Das hindert mich natürlich in meiner Selbstgefälligkeit nicht daran, dies anderen vorzuwerfen.
Ich schrieb Gundula sofort zurück. Ich schrieb, das wir alle 3 Geschwister unter Druck stehen und das Mutter dazu neigt, uns Geschwister gegeneinander auszuspielen. Ich schob Bertas Aussage Gundula gegenüber auf den Stress, der für Berta sicherlich noch größer als für mich ist. Ich erinnerte Gundula auch an die leidige alte Story, das mich meine Familie jahrelang fälschlicherweise für schwul gehalten hatte, weil ich solo ohne Freundin durchs Leben ging. Den Vergleich musste ich an dieser Stelle noch bringen.
Einwurf: Nach meiner Antwort per Whatsapp habe ich weder Berta zur Rede gestellt noch Gundula gefragt, was genau Berta gemeint hatte. Das war und ist mir zu blöde, da bin ich stur. Heute gehen wir alle miteinander um wie vorher auch, also was soll`s. Man kann auch alles tot diskutieren.
Wenigstens habe ich anschließend gesoffen. Ich hatte noch reichlich Pils, hörte AC DC und vergrub mich in meinen Frust. „Warum nur, wieso..." Ich war konsterniert und machte einige Dosen platt, bis meine Löwin auftauchte und ich ihr von der merkwürdigen Whatsapp erzählte. Meine Löwin konnte sich ebenfalls keinen Reim auf die Angelegenheit machen und legte sich alsbald schlafen, derweil ich noch eine Dose öffnete und mich weiterhin meiner Musikbox widmete, bis ich mich schließlich auch hinlegte.

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